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Belastungszeuge Wecker Nummer 6457

Im Prozeß gegen Ingrid Strobl bestimmen Engstirnigkeit und Vorurteile die Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters / Beweisgrundlage der gesamten Anklagekonstruktion ist ein „Weckerprogramm“ des Bundeskriminalamtes: 7.000 Emes-Wecker wurden vom BKA aufgekauft und mit Nummern präpariert  ■  Von Gitti Hentschel

Ein viel zu kleiner Saal, mit Holz getäfelt, braunen Richtertischen, überhaupt braunen Möbeln, dreckig-grünem Teppichboden, Neonlicht, fensterlos; die Klimaanlage mal zu warm und mal zu kalt. Auf jeden Fall hat man abends Kopfschmerzen oder brennende Augen. Hier wird seit dem fünften Verhandlungstag vor dem 5.Strafsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts gegen die 36jährige Journalistin und engagierte Feministin Ingrid Strobl verhandelt, zweimal wöchentlich, mit jeder Menge Sicherheitskontrollen bei den BesucherInnen: Sämtliche Personalausweise werden fotokopiert, mal wird man am ganzen Körper abgegrabscht, mal darf man so in den Saal. Mal muß ich meinen Autoschlüssel abgeben - Taschen sowieso -, und immer müssen Leute draußen am Tor zurückbleiben, während von den 80 Sitzplätzen schon 20 mit Zivilpolizisten besetzt sind. Aus „Sicherheitsgründen“, behauptet der Vorsitzende Richter Klaus Arend - vom Anklagevorwurf wird auf ein Verhalten der ZuschauerInnen geschlossen. Denn schließlich geht es um „Terrorismus“.

Genauer gesagt geht es allerdings nur um den Kauf eines Weckers. Reste des Miniweckers Emes Sonochron mit dem nummerierten Ziffernblatt 6457 wurden nach einem Sprengstoffanschlag der „Revolutionären Zellen“ (RZ) auf das Lufthansa-Gebäude in Köln am 28.Oktober 1986 gefunden. Und genau diesen Wecker soll Ingrid Strobl am 11.September '86 im Kölner Uhrengeschäft Wempe gekauft haben. Allein darauf hat die Bundesanwaltschaft (BAW) ihre gesamte Anklage nach §129a aufgebaut - „Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung RZ“, eine Anklage, die nach dem §311, Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag, niemals zur Verhandlung käme. Auch die lange Untersuchungshaft von Ingrid Strobl - inzwischen seit 15 Monaten -, zeitweise unter den extremen Bedingungen der Isolation, ihre monatelange Überwachung und die Durchforstung ihres gesamten Bekannten-und FreundInnenkreises sind nur nach diesem Sonderparagraphen 129a möglich.

Von Beginn der Beweisaufnahme an hatte der Vorsitzende Richter betont, für ihn sei die „zentrale Frage“ des Verfahrens: Wußte Ingrid Strobl, daß der von ihr gekaufte Wecker einem Anschlag dienen sollte? Nur das interessiere ihn. Damit hatte er von vornherein unterstellt, was erst noch zu beweisen war, daß nämlich die Journalistin nicht irgendeinen, sondern tatsächlich den beim Anschlag gefundenen Wecker 6457 gekauft hat. Doch nach zehn Verhandlungstagen - von bisher anberaumten 13 - und nach der Aussage von 26 ZeugInnen erscheint diese Grundvoraussetzung der gesamten Anklagekonstruktion äußerst wackelig. Die Beweisführung stützt sich allein auf das sogenannte „Weckerprogramm“ des BKA und erwies sich als äußerst fehler und lückenhaft.

Ausgetüftelt haben dieses „Weckerprogramm“ zwei BKA -Hauptkommissare, der 41jährige Rolf Finkler und der 35jährige Bernd Deutesfelder, nachdem das BKA erkannt hatte, daß die RZ bei Anschlägen häufig mit einem Emes-Miniwecker den Zündzeitpunkt verzögerten. Nicht ohne Stolz erläuterten die beiden BKAler ihren Plan, nach einem erneuten RZ -Anschlag mit einem Emes-Wecker dessen KäuferIn zu identifizieren, sie zu observieren und beim nächsten Anschlag an Ort und Stelle zuzuschlagen. Der Zynismus dieses Plans, dessen Erfolg von neuen RZ-Anschlägen abhing, war sowohl diesen als auch allen anderen BKA-Zeugen entgangen.

Zur Verwirklichung dieses Plans hatte das BKA rund 7.000 Emes-Miniwecker aufgekauft, den gesamten Restbestand der Herstellerfirma, und deren Ziffernblätter mit Nummern versehen. Die nummerierten Ziffernblätter waren dann in der Emes-Fabrik mit den restlichen Uhrenteilen zusammenmontiert worden, wie ein 59jähriger Uhrmachermeister anschaulich beschrieb, der das „Weckerprogramm“ bei Emes überwacht hatte. Zur Identifizierung der nummerierten Wecker hatte das BKA mit gleichen Nummern versehene Aufkleber mitgeliefert, die auf die äußere Verpackung der Wecker zu kleben waren.

Hier entdeckten die beiden VerteidigerInnen, Hartmut Wächtler und Edith Lunnebach, eine entscheidende Fehlerquelle. Nur eine Hilfskraft war für diese Verpackungsarbeit zuständig, systematische Kontrollen, mit denen mögliche Verwechslungen von Nummern auf der Verpackung ausgeschlossen werden konnten, hatte es nicht gegeben. Wenn hier eine Nummernverwechslung stattgefunden hätte, wäre sie nie mehr feststellbar.

Mehrere hundert nummerierte Wecker wurden vom BKA selbst an insgesamt 30 Uhrengeschäfte in Nordrhein-Westfalen ausgeliefert, wo das BKA eine Hochburg der RZ vermutet. Aus allen anderen Uhrengeschäften wurden diese Miniwecker zurückgezogen. In den Geschäften wurden Kameras installiert und das Personal angewiesen, WeckerkäuferInnen aufzunehmen, von ihnen eine Personenbeschreibung anzufertigen und die Nummernaufkleber der Verpackung aufzubewahren. Rund 80 bis 90 KäuferInnen wurden so nach Schätzungen der BKA-Zeugen mit der Kamera aufgenommen, darunter Ingrid Strobl. Sämtliche Bilder liegen angeblich beim BKA.

Nach übereinstimmenden ZeugInnenaussagen - von VerkäuferInnen wie BKA-Beamten - lief im Uhrengeschäft vieles anders als vom BKA ausgedacht. Zum Beispiel schrieb die Firma die Nummern der BKA-Aufkleber auf eigene Etiketten, die sie an die Wecker heftete - Fehler, etwa „Zahlendreher“ beim Abschreiben, waren kaum auszuschließen. Gegensätzlich in diesem wie in anderen Punkten die Aussagen der BKAler und der VerkäuferInnen. Die Beamten wollen zur Vermeidung solcher Fehler ständige Gegenkontrollen gemacht haben. Das Verkaufspersonal von Wempe konnte das nicht bestätigen.

Fragezeichen auch beim Weckerkauf von Ingrid Strobl. Der stellvertretende Geschäftsführer will die entscheidende Weckernummer 6457 vom Etikett des Weckers auf einen Zettel geschrieben haben. Konkret erinnern kann er sich daran jedoch nicht. Auch die Verkäuferin, die die Journalistin bedient hat, und deren Kollege erinnern sich daran nicht. Vor allem das Etikett selbst ist verschwunden. Fehler, Schlampereien, Ungereimtheiten hielt die Verteidigung den BKA-Beamten immer wieder vor, unter anderem die, daß sie ZeugInnen erst ein Jahr und vier Monate nach dem Anschlag förmlich vernommen hatten, als ihre Erinnerung schon sehr nachgelassen hatte. Zur Begründung erklärten die Beamten: Nie hatten sie damit gerechnet, daß das Weckerprogramm zur Beweisführung herangezogen würde. Da es doch „recht ausgefallen“ sei, hatte es geheim bleiben sollen. Zur Überführung der RZ hätten sie handfestere Beweise erwartet. Und dennoch wird nun dieses Programm zur Beweisgrundlage der gesamten Anklage.

Gefährliche Bücherkäufe

Möglich wurde dies offensichtlich nur auf der Basis von Vorurteilen und Voreingenommenheit gegen Ingrid Strobl, die aus ihrer engagierten gesellschaftskritischen Haltung nie einen Hehl gemacht hat, im Gegenteil. Wie Vorurteile auf der Basis eines begrenzten Wahrnehmungshorizonts, verbunden mit dem verzweifelten Bemühen um Fahndungserfolge, wirken, davon geben verschiedene BKA-Zeugen ein bedrückendes Zeugnis. Allen voran der 47jährige Walter Meyer und der 33jährige Klaus Preßler, zwei Sachbearbeiter einer Sonderkommission, die 1978 eigens zur Aufklärung von RZ-Anschlägen eingerichtet worden ist. Vergeblich wurden hier jahrelang Bekennerschreiben und RZ-Erklärungen analysiert, Tatmittel und Tatorte untersucht, Verdächtige unter die Lupe genommen. Zum Beispiel wurden im BKA-Computer allein deshalb Leute gespeichert, weil sie eine Broschüre über die RZ beim Verlag bestellt haben. Ingrid Strobl, damals noch 'Emma' -Redakteurin, gehörte dazu. Als die Feministin schließlich als Weckerkäuferin ins Visier der Fahnder geraten war und ihr Leben durchforstet wurde, sprach in den Augen der Fahnder offensichtlich vieles gegen sie: Gefängnisbesuche während ihrer Studienzeit in Wien bei einem 2.Juni-Mitglied und politische Aktivitäten in einer Universitätsfrauengruppe.

Gegenüber einer derart verdächtigen Frau wurden die BKA -Beamte offensichtlich skrupellos, wenn sie dann für sich vermeintliche Erfolge verbuchen konnten. Zum Beispiel behauptete BKA-Mann Preßler in einem Vermerk an die Bundesanwaltschaft nach einem abgehörten Telefongespräch zwischen Ingrid Strobl und dem früheren taz-Redakteur Oliver Tolmein, die Journalistin habe einen Artikel über Folter in Chile geschrieben, und folgerte, in diesem Bereich seien demnächst RZ-Anschläge zu erwarten. Der für ihn verräterische Satz aus seinem Vermerk: „Sie (Strobl) ist im allgemeinen gegen die Todesstrafe, in diesem konkreten Fall aber dafür.“ Als die Angeklagte ihm selbst empört vorhält, hier sei es um Simone de Beauvoirs Haltung zur Todesstrafe gegangen, deren Buch Auge um Auge sie für die taz rezensiert hatte, erklärt der Beamte das Ganze lapidar als „Fehlinterpretation“. Den Artikel, gibt er zu, habe er nie gelesen.

Für seinen Kollegen Meyer war die Journalistin in der Zeit, in der sie observiert wurde, zunächst nur „Unterstützerin“ oder „Mitglied der RZ“, dann avancierte sie in seinen Vermerken plötzlich zur möglichen „Rädelsführerin“. Dazu Verteidiger Wächtler: „Was hatten Sie dafür mehr als Ihre Vermutung?“ Meyer: „Daß sie engen Kontakt zu Personen hatte, die sich intensiv mit Asylanten- und Ausländerproblemen beschäftigten.“ Zu diesem Themenkomplex hatten die Beamten seit 1984 zwölf RZ-Anschläge registriert. Einmal verdächtig, konnte die Feministin in den Augen dieser kleinkarierten, bornierten Beamten nichts mehr entlasten. Daß sie nach einer Wohnungsdurchsuchung nicht - wie die Beamten selbstverständlich annahmen - untergetaucht war, hielten die BKAler dennoch für bedeutungslos, ebenso wie die Tatsache, daß monatelange Überwachungen und sämtliche Überprüfungen ihrer Notiz-und Adreßbücher nichts Belastendes erbrachten. Sie sei schließlich gewarnt worden, wußten sie als Erklärung. Tatsächlich hatte sie über die 'Emma'-Redaktion von der Freundin eines Polizeibeamten einen Tip bekommen.

Engstirnigkeit, Vorurteile und Arroganz prägen auch die Verhandlungsführung des Vorsitzenden Richters Arend. Zunächst verlas Richter Arend stundenlang Artikel der Journalistin, vorwiegend in 'Emma‘ veröffentlicht, frech, gesellschaftskritisch, prägnant und engagiert geschrieben doch was sollten sie beweisen?

Beim §129a wird der konkrete Tatnachweis nicht mehr verlangt. Allein die Beteiligung an einer „terroristischen Vereinigung“ ist strafbar. Doch für diese Anklage der BAW hat es bisher keine Beweisführung gegeben. Die BAW leitete sie allein aus dem Weckerkauf und der Behauptung ab, die RZ arbeiteten abgeschottet und beschafften alle Tatmittel selbst, also, so der Zirkelschluß, muß Ingrid Strobl als Weckerkäuferin RZ-Mitglied sein. Von vornherein zeigte sich das Gericht bereit, einem Teil dieser Unterstellung ohne Beweisführung zu folgen. Am dritten Verhandlungstag erklärte Klaus Arend es als „gerichtsbekannt“ und „allgemeinkundig“, daß die RZ eine in sich abgeschlossene Gruppe seien. Mit dieser „Offenkundigkeitserklärung“ wollte er zu diesem wichtigen Teil der Anklage die Beweisführung unterlassen. Beweisanträgen der Verteidigung, die diese Behauptung widerlegen, folgte das Gericht bisher nur teilweise.

„Ihnen wird Hören und Sehen vergehen!“

Obwohl Ingrid Strobls Mitgliedschaft bei den RZ bisher in keiner Weise erwiesen ist, verlasen die fünf Richter ältliche Männer mit dicken Brillen auf der Nase - im Rahmen der Vernehmung der BKA-Beamten stundenlang Auflistungen des BKA über Anschläge, die den RZ seit 1973 angelastet werden oder zu denen sie sich bekannt haben. Anschläge vorwiegend auf Firmen, Industrieanlagen, Institute, die Genforschung betreiben oder von der Atomwirtschaft profitieren, den Sextourismus fördern oder gegen AsylbewerberInnen und andere AusländerInnen vorgehen; einige richteten sich gezielt gegen Personen, wie etwa gegen den Leiter der Berliner Ausländerbehörde Hollenbach, in dessen Beine geschossen wurde. Alles in allem 176 Anschläge. Eine Auflistung, die die Aktivitäten der RZ eindrucksvoll zu belegen vermochten, vielleicht auch ihre Gefährlichkeit für diesen Staat. Doch was, wenn nicht die Suggestion, das damit auch Ingrid Strobl gefährlich sein muß, sollte damit bezweckt werden?

Am bisher vorletzten Verhandlungstag hat die Verteidigung die Vielzahl von Fehlerquellen bei der Beweisführung zusammengefaßt und damit einen Antrag auf sofortige Haftentlassung begründet. Zwar lehnte das Gericht diesen Antrag ab, aber es kündigte zumindest weitere Nachermittlungen zum „Weckerprogramm“ an. Darüber hinaus erklärte sich der Vorsitzende Richter von den „Sachargumenten“ der Verteidiger beeindruckt. Es bleibt abzuwarten, ob das Gericht in der Lage ist, sich aus seinen offensichtlichen Festlegungen zu lösen und wirklich „Sachargumenten“ zugänglich zu werden.

Jedenfalls zeigte sich in den letzten Verhandlungstagen ein Stimmungsumschwung beim Vorsitzenden Richter. Deutlich hielt sich Richter Arend, der die Verhandlung selbstherrlich und patriarchalisch leitet und am liebsten über seine eigenen Witze lacht, bei Reaktionen aus dem Publikum zurück. Anfangs hatte er auf das geringste Lachen oder Rufen mit cholerischen Anfällen reagiert, bei denen er die ZuhörerInnen immer wieder anherrschte: „Wenn das jetzt nicht aufhört, dann fahre ich dazwischen“ oder „Ich verhänge Ordnungsstrafen, da wird Ihnen Hören und Sehen vergehen“. Auch die Zahl der Zivilpolizisten im Saal verringerte er im Wege der Entspannungspolitik um fünf auf 15. Und als am 8.März, dem internationalen Frauentag, eine Gruppe von Frauen Papierbänder ausrollte, blieb er relativ gelassen. Auf dem Transparent stand: „Bis zu unserer endgültigen Befreiung müssen wir noch viele Bettücher zusammenknoten“.

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