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Lügen aus dem Handgelenk

■ „Der Tod eines Handlungsreisenden“ in der Inszenierung von Charlotte Kleist am Schauspielhaus Hamburg

Nichts passiert“, sagt Willy Loman am Anfang seiner langen Nacht, und am Ende steht seine Frau Linda an seinem Grab und kann nicht weinen: „Wir sind frei.“ Viel ist passiert, wenig hat sich geändert. Frei ist niemand geworden, nur Willy, der Handlungsreisende im ordentlichen, kleinkarierten Anzug, ist tot, erschöpft von zu vielen Fahrten. Die Eckpfeiler seines Lebens, Kühlschrank und Auto, sind mit ihm verschwunden. Wenn sein Sohn Biff ihn mit der Wahrheit seines Scheiterns bedrängt und ihn um die Gnade der Durchschnittlichkeit anfleht, klammert sich Willy an den Kühlschrank, und das Auto steht stumm und strahlend zwischen dem kleinen Haus der Lomans und dem Hochhausklotz mit den aufprojizierten Fenstern und gibt den großen Träumen des kleinen Willy die einzig gültige, greifbare Form. Seine Länge bestimmt immer auch den Abstand zwischen Willy und seiner Frau Linda, und wenn er träumt, wird der Himmel hinter dem Auto groß und blau und kinderwolkig, und seine american boys sind wieder die Sportskanonen von damals. Bruchlos gleitet Willy Loman aus seiner Realität in die Zeit, als alle Chancen scheinbar offenstanden: sein Bruder ihn nach Alaska locken wollte und seine Söhne noch seine Hoffnungen erfüllen sollten, beliebt, großartig, unabhängig. Happy ist inzwischen zu Willys seichterem Ebenbild geworden, und sein Liebling Biff ist an den Illusionen und Lügen des Vaters gescheitert. Arthur Millers „Klassiker des kleinen Mannes“ erzählt vom verzweifelten Bemühen, die Lebenslügen aufrechtzuerhalten, und wenn es das Leben selbst kostet.

Charlotte Kleists Inszenierung dieser langen Nacht, unterbrochen nur durch den künstlichen Tag der Büroetagen, als Willy entlassen und schließlich in der Kneipe von seinen Söhnen sitzengelassen wird, legt großes Gewicht auf die Durchlässigkeit der Zeiten, die Übergänge zwischen Gestern und Gegenwart. Willy Lomans schwindende Kraft legt das Gespinst, in das alle verstrickt sind, in seiner tödlichen Konsequenz von Anbeginn offen. Immer wenn ein Schein von Wahrheit eindringt, gerät es in gefährliche Bewegung, und damit es nicht zerreißt, gruppieren sich die Beteiligten um, zeigen die gleichen Lügen in immer neuen Facetten. Christa Berndl als Ehefrau Linda ist hier nicht das grämliche Opfer, sondern Willys Wall gegen jeden Funken Erkenntnis, effektiv und lächelnd und eher bereit, das Leben ihrer Söhne zu opfern als die Illusionen ihres Mannes, denn aus ihnen bezieht auch sie ihre Macht.

Das Innere seines Kopfes war als ursprünglicher Titel des Stückes vorgesehen, und Charlotte Kleist macht die Bruchstellen von Willys Wahngebäuden zu immer neuen Irritationsfeldern. Die SchauspielerInnen setzen sich dem mit fast tänzerischer Leichtigkeit aus und führen den Mythos vom Handlungsreisenden in exakten kleinen Choreographien zurück auf das „Innere des Kopfes“. Weil ihre Geschichte hier nicht mehr die vom Scheitern des amerikanischen Traumes ist, sondern die von Menschen, die sich der Wahrheit über sich und ihr Leben immer wieder mit artistischem Geschick entziehen, ist sie so zugänglich, unterhaltsam und neu. Das liegt nicht zuletzt an Hermann Lauses Willy Loman: Mit großer Spannung verfolgt man, wie er antritt gegen die mächtigen Bilder eines Fritz Kortner, Heinz Rühmann und schließlich Dustin Hoffman, und wie er sich, anfangs noch mit Mühe, dann mit Glanz und großer Kraft und Grazie seinen Willy Loman erobert. Lause zaubert die Lügen aus dem Handgelenk, und seine Hände erzählen dennoch die Wahrheit eines kleinen Mannes, dessen Begeisterung und Sehnsucht auch lebendig und schön war. Sein Kopf sinkt immer schwerer herab, doch wenn er ihn wieder hochzwingt, sehen wir, daß in allen seinen Lügen auch Stolz und Würde lag. In seinen Söhnen scheinen Spiegelungen von ihm auf, vor allem Marcus Bluhm als Happy macht das, was an seiner Lebenskraft so leuchtend ist und zugleich so zerstörerisch, sehr glaubwürdig. Daß der Lieblingssohn und Hoffnungsträger Biff zurückkehrt, um sich der Familie noch einmal zu stellen, ist in dieser Inszenierung gerade deshalb weniger glaubwürdig, weil sie sonst die Grenzen zwischen Gestern und Heute so hellsichtig auslöscht.

Charlotte Kleists Inszenierung ist auch deshalb klug, weil sie Willy Lomans Selbstmord nicht darauf zurückführt, daß er wachgerüttelt wird. Im Gegenteil: wenn er, während er Blumen zwischen den Beton pflanzt, seinen Tod als Geniestreich phantasiert, läßt Hermann Lause ihn immer schwerer werden, immer härter und verkrümmter, deutlich zu sehen als Menschen, der nicht an der Wahrheit stirbt, sondern an der Lüge.

„Ob ich es einmal erleben werde, daß mir etwas wirklich gehört, bevor es kaputtgeht?“ Bei dieser kläglich- komischen Trauer um ewig defekte Kühlschränke und Autos konnte noch gelacht werden. Je deutlicher die Antwort, desto mehr empfinden wir Trauer, die Loman gebührt. Lore Kleinert

Arthur Miller: Der Tod eines Handlungsreisenden. Regie: Charlotte Kleist. Bühne: Kai Antony. Mit Hermann Lause, Christa Berndl, Marcus Bluhm u.a. Schauspielhaus Hamburg. Nächste Aufführungen: 19., 22.März und 2.April.

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