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„Wer Nazi ist, das bestimmen wir“

Falco Werkentins umfangreiche Recherche zur politischen Rechtsprechung in der DDR der Ära Ulbricht  ■ Von Udo Scheer

Wir schreiben April 1953. Witterungsunbilden, Viehseuchen und die Zwangsabgabe von Milchvieh treffen den Bauern K. Dennoch wird er verurteilt wegen Nichterfüllung der Abgabenorm und Steuerschuld (43.000 Mark): Zehn Jahre Zuchthaus und Vermögenseinziehung.

Der Bauer Sch. verkauft sieben Pfund Gänsefedern in West-Berlin, um sich ein Paar Arbeitsstiefel zu leisten. Diese Tat sei besonders ruchbar, so der Ankläger, weil die Gänsefedern den Kriegsverbrechern überlassen wurden, „die [...] die Einbuße unzähliger Federbetten der deutschen Menschen auf ihrem Gewissen haben“. – Drei Jahre Gefängnis.

Zwei Urteile von 24.211 in zwölf Monaten bis zum Juni 1953, denen eins gemeinsam war: Sie richteten sich alle gegen „Großbauern“ – Bauern, denen die SED 1950 während der Bodenreform 20 bis 100 Hektar zur Bewirtschaftung zugemessen hatte. Nun sollten sie nach dem Willen derselben Partei als sozialer Typus verschwinden, indem sie „freiwillig“ in LPGs eintraten. Andernfalls schrieb das Szenarium vor: Kriminalisierung, Verurteilung, Enteignung.

Schätzungen sprechen von wenigstens 200.000 bis 250.000 Opfern politischer Strafjustiz in 40 Jahren DDR. Der studierte Soziologe Falco Werkentin, der, seit die Archive zugänglich sind, mehrere Beiträge über das Rechtswesen in der DDR veröffentlichte, dokumentiert hier in komplexer Form den Zugriff der SED auf die politische Strafjustiz und zeigt ihre Profilierung zum „scharfen Schwert in der Hand der Arbeiter- und Bauernmacht zur energischen Unterdrückung der Feinde, zur Erziehung zur Staats- und Arbeitsdisziplin [...]“ (ZK-Definition).

Dabei fing alles scheinbar plausibel an. Mit dem Anspruch, als erster antifaschistischer Staat das bessere Deutschland aufzubauen, war – anders als in der BRD – das NS-belastete Personal weitgehend aus dem ostdeutschen Justizwesen entfernt worden. Ausgewählte Absolventen von Volksrichterlehrgängen übernahmen die Rechtsprechung. Bereits da rekrutierten sich 80 Prozent von ihnen aus SED-Mitgliedern, die strikter Parteidisziplin unterworfen waren.

Die Auflösung der sowjetischen Internierungslager bot strebsamen „Justizfunktionären“ (Werkentin) bei den Waldheimer Prozessen 1950 ihre Feuerprobe. Die SED war angetreten, anhand der überstellten NS-Täter und denunzierten Mitläufer aller Welt ihre Generalabrechnung mit dem Faschismus vorzuführen. (Als Nebeneffekt erhielt die DDR-Bevölkerung Staatsabsolution für ihre Vergangenheit.) Zehn öffentliche Verfahren mit sorgfältiger, differenzierter Rechtsprechung sollten für die übrigen 3.385 Geheimverfahren ebensfalls Gerechtigkeit suggerieren. Für die gab das Zentralsekretariat unter Mitwirkung von Hilde Benjamin, spätere Justizministerin, als Richtlinie vor: Keine Zulassung von Verteidigern, kein Urteil unter zehn Jahren.

Der propagandistisch inszenierten Läuterung vom Faschismus stellte die SED ein stilles Integrationsangebot gegenüber. Dankbar traten 175.000 zuvor in NS-Organisationen Involvierte in ihre Reihen ein. Fallbeispiel Bernd Heller: In den sechziger Jahren recherchierte er auf eigene Faust die Nazivergangenheit von politischer DDR-Prominenz. Sein MfS-Vernehmer: „Wer Nazi ist, das bestimmen wir.“ – Eineinhalb Jahre Haft.

Nach der erfolgreichen Einflußnahme der Partei auf die Rechtsprechung in den Waldheimer Prozessen verallgemeinerte sie ihr Feindbild von Nazis auf „Gegner der sozialistischen Gesellschaft“. Dabei verstand sich das Zentralsekretariat mit Walter Ulbricht an der Spitze als oberster Gesetzgeber, Ankläger, Richter und Begnadigungsinstanz in einem. Diese dem Absolutismus entlehnte Rechtsauffassung behielt auch Erich Honecker bis zum Ende seiner Ära bei. Noch am 28.11.1989 rehabilitierte das Politbüro höchstrichterlich Walter Janka.

Zwischen Waldheim und dem Mauerfall untersucht Werkentin den Beitrag der Justiz zur Zwangskollektivierung 1952/53 und 1960/61, die Spalterfunktion durch liberale Strafjustiz nach dem 17. Juni 1953 gegen „Irregeleitete“, die nur ökonomische Forderungen aufmachten, und die brutale Härte gegen „faschistische Provokateure“, die auch politische Veränderungen eingefordert hatten. Er dokumentiert die Justizpraxis und ihre politischen Hintermänner vor und nach dem Mauerbau 1961 und die Reaktion auf die Proteste nach dem Einmarsch in die ČSSR 1968. Die Willkür in der Strafjustiz läßt sich an der Fieberkurve der Häftlingszahlen ablesen, die zwischen 4.000 und 50.000 pulsierte. Es ging nur sekundär um die Abstrafung der Verurteilten. Das Maß für die Härte ergab sich aus der für notwendig befundenen „erzieherischen“ Einschüchterung von 16 Millionen.

Die wenigen Richter, die das „empfohlene“ Strafmaß unterschritten, wurden diszipliniert, ihre Urteile wurden revidiert, und wenn es zur Erziehung der Kaste angemessen schien, wurden sie im Beisein von Kollegen auch selbst zu Haftstrafen verurteilt. Besonders hart traf es denjenigen, der die graue Rechtsinstanz, das MfS, entlarvte. Fallbeispiel Dr. Schmidt: Er wies den Genossen bei der Verteidigung seines Mandanten 1955 Folter und Erpressung von Geständnissen nach: Acht Jahre Zuchthaus wegen Boykotthetze.

Das Gros der Justizfunktionäre mühte sich, jedes von der Partei gewünschte Strafmaß zu verhängen. Vorabsprachen mit ihrer SED- Kreisleitung, Bezirksleitung, in sensiblen Fällen zwischen Justizminister(in) und ZK, gehörten zur Normalität.

Auf Seite 404 gibt Falko Werkentin seine Antwort auf die Frage: War die DDR ein Unrechtsstaat? Die „politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht“ beweist einmal mehr, die Wahrheit liegt jenseits jeder Pauschalisierung. Während das Familien- und Arbeitsgesetzbuch als vorbildlich gelten durfte (nur für „feindlich negative Personen“ verwandelten sich auch hier die Paragraphen in Gummi), war das politische Strafrecht einer 40jährigen Rechtsbeugung unterworfen. Wie schwer sich die bundesdeutsche Justiz mit diesem Erbe tut, belegen die nur 53 Anklagen wegen Rechtsbeugung im Zentrum Berlin, die in vier Jahren Einheit erhoben wurden.

Falco Werkentin: „Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht“. Christoph Links Verlag 1995, 432 Seiten, 38 DM

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