: Jetzt aber Obacht!
■ An diesem Wochenende wird "Der 7. Sinn", die Fernseh- Fahrschule der Nation, 30 Jahre alt. A sentimental journey
Neulich rief mal wieder der Familienrat an, um einem mitzuteilen, daß irgendein sattsam entfernter Verwandter demnächst 85 werde, wozu man ihm doch tunlichst in irgendeiner Form beste Wünsche oder ähnliches zukommen lassen möge. Und spontan entfuhr es einem an der Muschel: „Huch, der lebt noch!?“ Was fraglos wenig schicklich war, aber so geht's nun mal zu in diesen unwirtlich-kalten Zeiten. Der Überblick ist schnell dahin. Ähnlich peinlich berührt war man, als einem unlängst die WDR-Mitteilung ins Haus flatterte, wonach „Der 7. Sinn“ an diesem Wochenende mit der 1.225. Folge sein 30jähriges Bestehen feiert. Schlechtestes Gewissen machte sich breit. Wie hatte man diese doch einst so heißgeliebte Sendung nur aus den Augen verlieren können?
Ein Blick ins Jubiläumsheft gab prompt Aufschluß: Die dreiminütige „Fahrschule der Nation“ (Kosename) läuft inzwischen sonntags, kurz nach 18 Uhr, vor der „Sportschau“. Und da guckt unsereins normalerweise irgendwohin, aber nicht in die Kiste. Eingeschaltet hatte man den Crash-Test-Clip – wie der Rest der Nation – ohnehin nie. Es war immer die Sendung im ARD-Abendprogramm, für die man nicht eigens umschaltete. In der Prä-Fernbedienungsära sowieso nicht. Beim Start im April 66 hatte „Der 7. Sinn“, damals noch satte fünf Minuten lang, den denkbar attraktivsten Sendeplatz: Am Freitag, zwischen der „Tagesschau“ und dem folgenden Krimi. Da schaltete doch keiner weg! Selbst wer eigentlich gar nicht zur Zielgruppe gehörte, weil er noch emsig auf seinen ersten NSU-Prinz sparte, wollte sich doch zumindest die gemeuchelte Krimileiche nicht entgehen lassen.
Darüber hinaus hatte der auf Anregung der „Deutschen Verkehrswacht“ ins Schirmleben gerufene „7. Sinn“ doch zumindest actionmäßig auch einiges zu bieten. Bereits in der ersten Folge gab's einen spektakulären Auffahrunfall zu bestaunen. Und auch in den folgenden Jahrzehnten wurde da streng nach dem Prinzip der Vorhersehbarkeit mit dem Eintreffen des Unvorhersehbaren gedroht.
Ob da nun unvermittelt ein Stück Rotwild über die Fahrbahn hechtete oder ein schlecht beleuchteter Panzer im Manöver ländlichen Disco-Heimkehrern den Manta ramponierte – ein spektakulärer Crash war (fast) immer garantiert. Ein Nervenkitzel ohne Reue und Betroffenheitshammer. Die Opfer blieben stets anonym, und wo's um Aufklärung ging, war Hingucken schließlich erste Bürgerpflicht. Beinharte Splatter-Fans kamen hier hingegen kaum auf ihre Kosten. Bei allem Bemühen um Wirklichkeitsnähe hielten sich die Macher doch mindestens so streng an die Regeln des guten Geschmacks wie an die des Verkehrs. Die Unfallopfer machten zwar mitunter einen recht leblosen Eindruck, aber auf kübelweise Filmblut, abgerissene Körperteile oder andere Unappetitlichkeiten wartete der Fan hier meist vergebens.
Und dann war da immer diese väterlich sonore Stimme von WDR-Sprecher Egon Hoegen, die einen schon durch ihr Timbre gemahnte, nun aber ja recht Obacht zu geben. Diese Stimme war bekannt, weil es die nämliche war, die seinerzeit immer den „Internationalen Frühschoppen“ („Mit sechs Journalisten aus fünf Ländern und Werner Höfer als Gastgeber“) ansagte und dafür sorgte, daß die Nation den Sonntagsbraten kalt werden ließ. Und siehe da, Hoegen ist, obwohl längst pensioniert, auch im 30. Jahr der Sendung noch immer mit von der Partie. (Wer den Mann, der aus unerfindlichen Gründen immer lächelt, mal im Bild erleben will, sei auf das türkische Staatsfernsehen TRT verwiesen: Da macht Hoegen regelmäßig – in deutscher Sprache – in einer Sendung namens „Willkommen in der Türkei“ reichlich hemmungslose Werbefilmchen für die örtliche Tourimus-Industrie.)
Neben der Stimme war das unveränderliche Kennzeichen der Sendung natürlich die Musik der Big Band von Kenny Clark und France Bolland. Trommelwirbel und fetzige Trompetenstöße, rhythmisch auf die wechselnden Lichter einer Verkehrsampel geschnitten. So was war damals, neben der Clip- Ästhetik, ziemlich kühn. Lang ist's her. Inzwischen ist „Der 7. Sinn“ von der ARD irgendwann auf drei Minuten gekürzt und im Programm mehrfach hin und her geschoben, längst zu einem liebenswert-grotesken Fossil des Steinzeit-Fernsehens à la Ede Zimmermanns „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ oder „Vorsicht Falle!“ mutiert. Schön, daß es so was noch gibt.
Doch dann schockte einen unlängst ein Kollege mit der Mitteilung, die Sendung habe jetzt ein völlig neues, flottes Design und sei kaum noch wiederzuerkennen. Aber nein, das ist doch nicht fair! Ich guck' da am Sonntag noch rein. Aber wenn „Der 7. Sinn“ aussieht wie irgendein dahergelaufener Allerwelts-Japaner, kündige ich die Freundschaft. Der entfernte Verwandte, der mir als Danksagung für meine besten Wünsche ein Porträtfoto zukommen ließ, hatte sich doch auch nicht liften lassen. Reinhard Lüke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen