: Für viele ehemalige Häftlinge der sowjetischen Speziallager war Hans Heinze ein ehrenwerter Mann. Aber der Arzt und „Lagerkamerad“ saß nicht zu Unrecht: Er war ein Kriegsverbrecher. Der Vordenker, Planer und Vollstrecker der Kinder- und Erwachsenen-„Euthanasie“ hat Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen. Jetzt bereitet ein Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen eine Gedenkfeier für den 1982 gestorbenen „großen Arzt“ vor Von Anita Kugler
Posthume Ehrung für einen Massenmörder
Am 18. Oktober wäre ein Mann 101 Jahre alt geworden, an den sich zahlreiche Häftlinge des sowjetischen Speziallagers Sachsenhausen bis heute mit Dankbarkeit erinnern: Hans Heinze. Am 15. Oktober 1945 verhafteten Offiziere der sowjetischen Besatzungsarmee den berühmten Psychiater und Neurologen an seinem Arbeitsplatz in der Landesanstalt Brandenburg-Göhrden, die er als Direktor seit 1938 leitete. Einige Monate später wurde er von einem Militärgericht zu sieben Jahren Haft verurteilt, die er in den Zuchthäusern Alt-Strelitz, Untermaßfeld, Torgau und im Speziallager des NKWD (Stalins Geheimdienst) in Sachsenhausen absaß. Während dieser Jahre, vor allem als Häftling in der Zone II in Sachsenhausen, soll er sich „unermüdlich für die Kranken, insbesonders für die zahlreichen Jugendlichen eingesetzt“, lebensrettende Maßnahmen durchgeführt, kurz gesagt, „segensreich“ gewirkt haben.
Diesem „großen Arzt“ also wollen ehemalige Patienten, insbesondere „Lagerkameraden aus den neuen Bundesländern“, am 18. Oktober in einer „stillen Feierstunde mit Kränzen und Blumen“ ehren. Etwa in Sachsenhausen? Möglich, denn die Einladung zu dieser „Gedenkveranstaltung“ ist unter dem Titel „Sachsenhausen“ in der Rubrik „Verbände“ in der jüngsten Ausgabe des Stacheldraht nachzulesen, einer Zeitschrift, die vom Landesverband Berlin des Bundes der stalinistisch Verfolgten (BsV) herausgegeben wird. Den genauen Ort erfahren die sich Anmeldenden nur durch eine schriftliche Einladung. Als Kontaktadresse für die Ehrung wird Heinzes ältester Sohn, Professor Dr. Hans Heinze junior aus Wunstorf, genannt sowie Werner Pfeiffer aus Gütersloh. Besonders der letzte Name ist interessant und gibt dieser Gedenkfeier, so privat sie auch daherkommt, politische Brisanz. Sein Engagement für Heinze könnte das seit knapp einem Jahr ohnehin sehr gespannte Verhältnis zwischen der Gedenkstättenleitung in Sachsenhausen und Teilen der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft zum Platzen bringen. Denn Pfeiffer, als Jugendlicher 1945 von den Sowjets nach Rußland verschleppt und Autor des Buchs „Mit 15 in der Hölle“, ist heute einer der Wortführer in der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945–1950 e. V.“. Unermüdlich wehrt er sich gegen die angebliche Diskriminierung von NKWD-Internierten durch die Gedenkstättenleitung in Sachsenhausen. Unermüdlich betont er, daß dort vorwiegend Unschuldige, nicht Nazis und Kriegsverbrecher litten.
Professor Hans Heinze also ebenfalls nur ein Opfer der stalinistischen Willkür? Ein Opfer kommunistischer Unrechtsjustiz im deutschen Ableger des „Archipel Gulag“ (Pfeiffer)? Einer, der mit Kränzen und Blumen moralisch rehabilitiert werden müsse, weil er nur wegen „antisowjetischer Propaganda“ interniert war? Aus Rache, weil er sich weigerte, seine Kompetenz den Sowjets für eine Klinik auf der Krim zur Verfügung zu stellen, wie Heinze es in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Hannover (ab 1956) zu Protokoll gab? Heinze gar ein antikommunistischer Widerständler, ein Antitotalitarist?
Mitnichten. Hans Heinze, Parteimitglied seit 1933, ist ein Naziverbrecher. Kein „williger Vollstrecker“, wie Daniel Goldhagen sie in seinem Buch beschrieben hat, sondern ein Vordenker und Macher. Zwar wurde das Ermittlungsverfahren gegen ihn Ende 1964 vom Landgericht Hannover wegen andauernder Verhandlungsunfähigkeit eingestellt; Heinze starb 18 Jahre später. Aber die Fakten sind eindeutig. Heinze war an den Planungen der „Euthanasie“-Zentrale in Berlin (T 4) ab 1939 direkt beteiligt. Er war einer der 30 prominenten Gutachter bei der „Erwachseneneuthanasie“, die bis zum vorübergehenden Stopp im August 1941 etwa 70.000 Menschen in den Tod diagnostizierten.
Er war obendrein einer der drei Obergutachter bei der „Kindereuthanasie“, eines der grausigsten Kapitel im Dritten Reich. Das Leben von mindestens 5.000 Kinder löschten die „Sachverständigen“ des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ mit einem Federstrich aus. Mit einem kleinen roten Pluszeichen für Töten auf einem standardisierten Formblatt, das Hebammen und Ärzte nach einem streng geheimen Erlaß von 1939 ausfüllen und dem Gutachtergremium schicken mußten. Sie entschieden über Tod oder Leben, ohne die Kinder je gesehen zu haben, ohne überhaupt nur die medizinischen Unterlagen zu kennen.
Getötet wurden die Kinder dann später in „Kinderfachkrankenhäusern“, deren Leiter als besonders zuverlässig galten. Heinze war zuverlässig. In seiner Klinik in Göhrden wurde 1940 die erste dieser „Kinderfachabteilungen“ eingerichtet, die erste von etwa 30 späteren speziellen „Euthanasie“- Zentralen. Nach Göhrden kamen in besonderen Transporten behinderte, psychisch kranke Kinder und Fürsorgezöglinge aus Berlin und Brandenburg.
Der Historiker Götz Aly, der jahrelang über die „Euthanasie“ forschte und in dessen Büchern der Name Heinze oft auftaucht, sagt: „Heinze war einer der fünf Hauptakteure des sogenannten ,Euthanasie‘-Programms. Er war der Vertreter des wissenschaftlich begründeten Mordes. Er trennte rigoros zwischen förderungswürdigem und förderungsunwürdigem Menschenleben. Den einen gewährte er Hilfe, die anderen ließ er töten.“
Die detailliertesten Informationen über Heinze hat unmittelbar nach der Wende der Chefarzt der Kinderneuropsychiatrie in der heutigen Bezirksnervenklinik Brandenburg und derzeit SPD- Bundestagsabgeordneter, Hans- Hinrich Knaape, zusammengetragen. Er ermittelte, daß zwischen Heinzes Amtsantritt im Herbst 1938 bis zur Übernahme der Klinik durch die Sowjets im April 1945 exakt 1.264 Kinder in der „Kinderfachabteilung“, die auf das Töten spezialisiert war, „verstorben“ sind. Meistens an einer Überdosis von Beruhigungsmitteln. Ihre Gehirne gingen an Forschungseinrichtungen, mit denen Heinze zusammenarbeitete. Während des Ermittlungsverfahrens verteidigte Heinze diese Tötungen als „Gnadenakt“; die Ermordeten seien nur „leere Menschenhülsen“ gewesen.
Darüber hinaus diente die Landesanstalt Göhrden als „Verlegungsort“ für geistig behinderte Kinder aus Einrichtungen in Potsdam und Lübben. Den Eltern erzählte man, daß ihre Kinder in Göhrden alle Pflege erhalten, in Wirklichkeit schickte man sie nach flüchtigen Untersuchungen weiter in die Vergasungsanstalt im alten Zuchthaus Brandenburg, gleich neben Heinzes Klinik. Knaape kann für das Jahr 1940 sechs dieser „Tötungstransporte“ nachweisen.
Obendrein diente die von Heinze geführte Landesanstalt als „Abgabe- und Zwischenanstalt“ für die von den T-4-Gutachtern, also auch von Heinze, in den Tod begutachteten erwachsenen Patienten. Knaape: „Auf direktem Weg sind aus Göhrden (1939–1941) 1.107 Patienten direkt (in die Vergasungsanstalten) Brandenburg oder Bernburg verlegt worden.“ Nach 1942 und bis April 1945 gingen von Göhrden aus Transporte in andere Tötungseinrichtungen wie Hadamar, Meseritz oder Ansbach.
Die angekündigte Ehrung für den „Euthanasie“-Vollstrecker Heinze wird von Götz Aly so kommentiert: „Es hätte gute Gründe gegeben, ihn 1945 zum Tode zu verurteilen.“ Hans-Hinrich Knaape: „Die Feier ist eine Diffamierung der Opfer.“ Folkert Schröder, Arzt und Organisator einer Ausstellung über die „Euthanasie“-Verbrechen in Brandenburg: „Zeitzeugen haben mir von seinem warmherzigen Auftreten in Sachsenhausen berichtet. Dennoch: Er ist des Massenmordes schuldig. Dieser Mann ist nicht würdig für eine Feier.“ Entsetzt reagierte die Vorsitzende des „Bunds der ,Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V.“, Klara Nowak: „Das ist ein Skandal. Während wir bis heute nicht als Verfolgte des Naziregimes anerkannt werden und um lächerliche Renten streiten müssen, wird versucht, einen Täter klammheimlich zu rehabilitieren.“ Kaum fassen kann die Ehrung Elvira Manthey. Sie veröffentlichte 1994 ein Buch – „Die Hempelsche“ – über ihre Odyssee durch nationalsozialistische „Fürsorge“- Anstalten, darunter auch Göhrden. Ihre Schwester wurde im alten Zuchthaus Brandenburg vergast, sie selbst stand schon vor der Gaskammertür und wurde – warum, wird sie nie erfahren – nach Göhrden zurückgeschickt. Für sie war Heinze „einer der größten Schweinehunde, die es gab“.
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