Berliner Jugendämter kollabieren: Keine Zeit für Kinder
MitarbeiterInnen von Jugendämtern warnen, dass sie wegen fehlendem Personal dem Kinderschutz nicht mehr gerecht werden können.
Ein ganz normaler Arbeitstag von Barbara Berry sieht so aus: Eine Schule meldet der Weddinger Jugendamtsmitarbeiterin, dass ein Kind mit blauen Flecken in den Unterricht gekommen sei. Es habe erzählt, es werde zuhause geschlagen. Von den Gesundheitsämtern kommen drei Hinweise auf mögliche Verwahrlosung. Zwei junge Obdachlose tauchen zudem bei ihr im Büro auf. Eine Mutter wendet sich an sie, weil ihr Kind in der Schule verhaltensauffällig ist. Um all das soll sie sich bis 18 Uhr kümmern. Neben dem normalen Geschäft. Die Scheidungsmeldungen sortiert sie gleich zum Stapel der nicht akuten Fälle.
Berry ist Jugendamtsmitarbeiterin im Soldiner Kiez. Zusammen mit vier Kolleginnen, ebenfalls aus Mitte, beschreibt sie am Donnerstag bei einem Pressegespräch der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft die hohe Arbeitsbelastung in den Jugendämtern. Auch aufgrund der gesellschaftlichen Sensibilisierung steigen die Fallzahlen seit Jahren, ohne dass mehr Personal im Einsatz wäre. „Ich betreue heute 80 Fälle“, erzählt Berry – darunter Familien mit bis zu sechs Kindern. Vor zehn Jahren seien es noch 50 bis 60 gewesen. Ihre Kollegin Heike Schlizio-Jahnke warnt: „Es geht nicht mehr so weiter. Wir können die Standards zum Kinderschutz nicht mehr einhalten.“
Mit zwei Brandbriefen haben die Vorsitzenden der Jugendhilfeausschüsse bereits Ende 2012 und Ende 2013 auf die Situation aufmerksam gemacht. Im Dezember hissten Jugendamtsmitarbeiter weiße Flaggen und demonstrierten so vor der Bildungsverwaltung. Im Februar warnten auch die Jugendamtsleiter, die Wirksamkeit ihrer Behörden sei gefährdet.
Am 30. April soll wieder vor der Bildungsverwaltung demonstriert werden. „Die Jugendamtsmitarbeiter wollen nicht verantwortlich sein, wenn morgen wieder ein Kind aus dem Fenster fliegt“, erklärt Florian Schwanhäußer, Sprecher der Vorsitzenden der Jugendhilfeausschüsse. Dann rege sich die ganze Stadt darüber auf, dass das Jugendamt nichts getan habe. Auch Berry sagt: „Wenn wieder was Schlimmes sein sollte: Wir haben vorher gewarnt.“
Der Senat sprach sich bereits für eine Fallzahlbegrenzung und eine Mindestausstattung an Personal in den Jugendämtern aus, sieht sich aber für das Problem letztlich nicht zuständig. „Die personelle Ausgestaltung der Jugendämter liegt in alleiniger Verantwortung der Bezirke“, heißt es von der Pressestelle der Jugendverwaltung. Bezirksbürgermeister wollten in der Vergangenheit das Land in die Pflicht nehmen. „Die Bezirkspolitiker zeigen auf das Land, das Land auf die Bezirke“, sagt Schlizio-Jahnke am Donnerstag resigniert.
Sie seien nur noch als Feuerwehr tätig, die im Notfall eingreife, schildern die Jugendamtsmitarbeiterinnen. „Wenn ein Kind von der Schule suspendiert wurde, kann ich der Familie erst in vier bis sechs Wochen einen Termin anbieten. Dabei ist das für sie eine akute Krise“, erzählt eine von ihnen.
Die Prävention falle hinten runter. Gerade psychisch kranke oder drogenabhängige Eltern seien nur bedingt in der Lage, den Alltag mit Kindern zu regeln, sagt Berry. Da finde eine chronische psychische Vernachlässigung statt. „Für diese Familien haben wir nicht genug Zeit.“
Von ihrem Pensum an dem einen Tag hat Barbara Berry dann doch noch einiges geschafft. Sie hat mit den zwei jungen Obdachlosen gesprochen und ihnen Schreiben für das Jobcenter fertig gemacht. Sie hat mit der Mutter geredet, deren Kind verhaltensauffällig ist, und ihr ein Papier für die Schule verfasst. Vor allem hat sie die Schule und die Eltern des Kindes mit den blauen Flecken besucht. „Für eine erste Einschätzung hat mir das gereicht“, erzählt sie. Das Kind konnte in der Familie bleiben. Die drei Verdachtsfälle auf Verwahrlosung blieben auf dem Schreibtisch liegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader