Filmstart „In Sarmatien“: Die Weite und die Enge
Auf der Reise, die Volker Koepp in seinem Film „In Sarmatien“ unternimmt, überlagern sich Politik, Geschichte und Landschaft.
In einem Garten in Czernowitz sitzen Tanja und ihre Eltern. Die Tochter hat die Ukraine vor Jahren verlassen, lebt in Deutschland, im letzten Sommer hat sie bei einem Besuch das erste Mal die Kinder mitgebracht. Seid ihr Europäer? Seid ihr Ukrainer? Habt ihr den Eindruck, ich habe mich an den Westen angepasst? Das fragt sie die Eltern.
Der Vater blickt sie nicht an, sagt, dass sie ihre Heimat schon mit den Augen der Westlerin sieht. Er verweist auch auf die Sowjeterziehung, die ihnen allen ukrainischen Nationalismus auszutreiben versucht hat. Aber wir sind Ukrainer, sagt die Mutter. Und wir sind Europäer, fügt der Vater hinzu.
Auf einer Anhöhe über dem Fluss Nistru sitzt Ana, die auch schon lange nicht mehr in ihrer Heimat lebt. Der Fluss markiert heute die Grenze zwischen Moldawien und Transnistrien, das von Russland gestützt wird, aber in den Augen der Welt gar kein Land ist. Wäre die Geschichte des Landstrichs heute noch sichtbar, wäre das Wasser des Flusses blutrot, sagt Ana.
Noch in den neunziger Jahren schlachteten sich die Menschen hier acht Monate lang ab, als sich Transnistrien von Moldawien abzuspalten versucht hat. Moldawien ist bettelarm, die Menschen verlassen das Land. Auf den Dörfern, erzählt Ana, die einen Film darüber gedreht hat, bleiben nur die alten Menschen und ihre Enkel. Die Elterngeneration verdient, weil sie in der Heimat nicht überleben kann, das Geld im Westen.
„In Sarmatien". Regie: Volker Koepp. Deutschland 2014, 129 Min.
Elena stammt aus Sibirien und ist nach dem Studium in Kaliningrad geblieben. Dort leitet sie ein Filmfestival. Sie sitzt im Kino und erzählt, wie sie vor fast zwanzig Jahren in Halle an der Saale Volker Koepps Film „Kalte Heimat“ sah und sich schämte für die eigene Heimat und weinte. Später begleitet der Film sie an den alten Ostsee-Badeort Swetlogorsk (früher: Rauschen), wo sie von der Aufbruchstimmung in den neunziger Jahren erzählt, von der wenig geblieben ist.
Sterne am Kinohimmel
Im Kino ist, während sie redet, unvermittelt eine Filmtonspur über Lautsprecher zu hören, die Elenas Erzählung unterbricht. Thomas Plenerts Kamera schwenkt im wunderschönen Kaliningrader Kinosaal an die Decke auf eine Art Sternenrotunde. Man hört Volker Koepps Lachen, dann erzählt Elena weiter.
In Sarmatien ist Volker Koepp unterwegs. Der Name stammt aus der Antike und beschrieb nie eine staatliche Einheit, sondern eine Region, die immer schon Grenzland zwischen Europa und Asien war. Von der Ostsee ans Schwarze Meer, von der Weichsel bis an die Wolga reicht Sarmatien und umfasst Gebiete, die heute zu Litauen, Polen, Moldawien, Russland und der Ukraine gehören. Auf der Reise, die Koepps Film unternimmt, überlagern sich die politische, die historische und die Landschaftsgeografie. Und es fehlt dabei nicht an den atemberaubenden, leise bewegten Tableaus von Flüssen, Himmel und Hügeln, für die Kameramann Thomas Plenert schon lange berühmt ist.
Das ist die Weite: die Schönheit des Landes, Johannes Bobrowskis sarmatische Poesie, der Raum, der von dem, was sich in ihm ereignet hat, schweigt. Da ist aber auch die Enge: das autoritäre Regime in der Ukraine, die mangelnde Aussicht auf eine bessere Zukunft, die Armut der Menschen, die ihre Heimat verlassen, um nicht zu verhungern.
100 Euro für die Theaterleiterin
Tanjas Cousine lebt auf dem Land und hat ihren Mann, der nach Spanien zum Arbeiten ging, sieben Jahre nicht gesehen. Anas Mutter leitet das Schauspielhaus in Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens, und verdient damit 100 Euro im Monat. In Czernowitz sitzt der Sohn von Rosa Roth Zuckermann, Lehrer am Gymnasium und ist gar nicht sicher, dass es eine gute Idee war, in der Ukraine zu bleiben.
Seit mehr als vier Jahrzehnten dreht Volker Koepp seine Filme. Weil er immer wieder an dieselben Orte zurückkehrt, ist er sich zunehmend selbst schon historisch. So sieht man Ausschnitte aus „Sarmatische Zeit“ von 1972, aus „Kalte Heimat“ und auch „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“. „Im Raume lesen wir die Zeit“ ist der Titel eines Buchs von Karl Schlögel – und in Koepps Film wird das doppelt Ereignis. „In Sarmatien“ verschränkt die Landschaften mit ihrer Gegenwart und der großen und der individuellen Geschichte. Koepps Filme sind Akte des Festhaltens und Erinnerns, die zugleich das Entgleiten und das Vergessen dokumentieren.
Die moderne Zeit vernichtet anders, sagt Ana einmal, und meint: gründlicher, restloser. Und wenn man dann Tanja und zwei ihrer Freundinnen in der Fußgängerzone in Czernowitz sieht; und wenn man hört, wie sie erzählen, dass wer als Ukrainer etwas werden will, am besten die Ukraine verlässt – dann schließt sich Volker Koepps weit ausgreifende Sarmatien-Erkundung sehr unvermittelt an die äußerste Gegenwart an.
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