: Mythos und Realität
Aufgrund von Tierschutzaspekten und weil es gesünder ist, verzichten immer mehr Menschen auf Wurst und Fleisch bei der Ernährung. Doch wenn auch noch Milch und Eier gemieden werden, droht eine Unterversorgung mit dem Vitamin B12
von PETRA SCHWARTZ-KLAPPund THORSTEN KLAPP
Angesichts nicht enden wollender Fleischskandale denken viele Menschen über die vegetarische Ernährung nach. Schließlich ist diese Ernährungsweise – richtig praktiziert – eine gute Alternative, die viele gesundheitliche Vorteile bietet. Für die meisten Vegetarier gehören Milch, Milchprodukte und Eier zum alltäglichen Speiseplan dazu. Strenge Vegetarier (Veganer) dagegen meiden auch diese Produkte und glauben, das sei noch gesünder.
Am Anfang ist die Begeisterung groß. Schon kurz nach der Umstellung auf vegane Ernährung sind viele Menschen überzeugt: Das ist es! Denn seit dem nur noch Obst, Gemüse oder Getreideprodukte auf den Teller kommen, fühlt man sich leichter, wacher, vitaler – einfach gut. Zuweilen verschwinden Neurodermitis-, Asthma- und andere Beschwerden.
Vegan-Verfechter versichern, dass die Angst vor Mangelerscheinungen durch diese streng pflanzliche Ernährungsform unbegründet sei. Der größte Knackpunkt bei der veganen Ernährung ist die Versorgung mit Vitamin B12 (Kobalamin). Dieses Vitamin wird nur von Bakterien gebildet und ist im menschlichen Körper wichtig für die Blutbildung. Darüber hinaus spielt es eine Rolle beim Stoffwechsel der Kohlehydrate, Proteine und Fette. Zudem ist es notwendig für die Gesunderhaltung des Nervensystems und der Psyche.
Die Autoren diverser Vegan-Bücher verstehen es, dem Leser alle Bedenken hinsichtlich ausreichender Versorgung mit Vitamin B12 zu nehmen: Vor allem fermentierte Pflanzenkost, wie Sauerkraut, Shoyu, Bruttrunk oder Miso, seien gute B12-Quellen. Auch Algen, Bierhefe, Petersilie, Sprossen und sogar getrocknete Feigen lieferten dieses Vitamin. Außerdem produzierten Bakterien im Darm das B-Vitamin. Deshalb sei ein Mangel daran praktisch ausgeschlossen.
Die Lösung des Welthungerproblems
Der Beweis, dass die vegane Ernährung funktioniere, seien Bevölkerungsgruppen in Indien, die seit eh und je vegan lebten. Genauso Gorillas, die sich ebenfalls nur vegan ernährten. Vegane Ernährung sei nicht nur gesundheitlich, sondern auch ethisch ideal, da dafür keine Tiere getötet werden müssten. Man darf nämlich nicht übersehen, dass auch für die vegetarische Ernährung getötet werden muss: Wohin mit den vielen männlichen Tieren? Die legen weder Eier, noch geben sie Milch.
Tatsächlich ist der Tierschutzaspekt bei vielen Menschen der alleinige Grund für die streng vegetarische Linie. Sie empfinden Töten als Unrecht und sehen in der Ablehnung der Tiertötung einen Beitrag zur Gewaltfreiheit in der Welt und zur Lösung des Welthungerproblems. Denn um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen, müssen sieben Kilogramm Pflanzen verfüttert werden – eine Lebensmittelverschwendung also. Ihre Einstellung verbietet vielen Veganern nicht nur Tierprodukte in der Ernährung. Sie lehnen sogar Gebrauchsgegenstände aus Tierprodukten ab, wie Lederschuhe oder Lederkleidung. Insgesamt, so schätzen Experten, ernähren sich etwa zehn Prozent der rund drei Millionen in Deutschland lebenden Vegetarier vegan.
Doch der Traum von der ewigen Gesundheit endet nicht selten in einem bösen Erwachen: Langjährige Veganer sind häufig gereizt, leistungsschwach, antriebslos. Viele leiden an Herzbeschwerden, Kribbeln an Händen und Füßen, Depressionen und Nervenschäden. Der Arzt diagnostiziert schließlich eine „megaloblastäre Anämie“ (in ihrer Anzahl reduzierte, stark vergrößerte rote Blutkörperchen). Die Ursache: Mangel an Vitamin B12. Wie kann das sein? Vegan-Verfechter machen gern für derartige Phänomene den so genannten Intrinsic-Faktor verantwortlich, ein im Magen produziertes Protein, das für die erfolgreiche Resorption des Vitamins B12 im Darm verantwortlich ist.
Pflanzen fehlt das Vitamin B12
Tatsächlich gibt es Patienten, die einen Mangel an diesem Protein aufweisen und folglich Vitamin B12 nicht in ausreichender Menge aufnehmen können. Die Ursache dafür kann zum Beispiel eine Magenschleimhautentzündung sein. Aber im Fall der meisten Veganer liegen die Dinge völlig anders: Ihre Nahrung enthält praktisch kein Vitamin B12. Zentrale Vegan-Argumente halten leider nicht der wissenschaftlichen Überprüfung stand: „Es ist ein Irrtum, dass Sauerkraut oder Algen als Vitamin-B12-Quellen geeignet sind“, stellt der Ernährungswissenschaftler Andreas Hahn, Dozent an der Universität Hannover, klar. „Man hat nämlich bei deren Analysen Verfahren verwendet, die nicht zwischen Vitamin B12 und wertlosem Pseudo-B12 unterscheiden können.“ Hahn forscht auf dem Gebiet der veganen Ernährung und betont: „In der Praxis hat sich gezeigt, dass pflanzliche Produkte, wenn überhaupt, Vitamin B12 nur unzureichend liefern. Sie sind keine zuverlässigen B12-Quellen.“ Die American Dietetic Association weist darauf hin, dass 80 bis 94 Prozent des Vitamin B12 in fermentierten Produkten wertloses Pseudo-B12 sein können. Kein Wunder also, dass zahlreiche Studien darlegen, dass Veganer tatsächlich ein großes Risiko eines B12-Mangels eingehen.
Auch die B12-Versorgung durch Darmbakterien entpuppt sich als ein Mythos: „Es werden zwar erhebliche Mengen an Kobalamin im Darm erzeugt“, erklärt Hahn weiter, „aber sie können nicht vom Körper aufgenommen werden.“ Denn die B12-Synthese im Darm findet jenseits der Absorptionsstelle statt. Dieses B12 verlässt unverwertet den Körper mit dem Stuhl.
Nicht anders ist es bei vegan lebenden, nicht wiederkäuenden Tieren, wie den Gorillas. Ihr Geheimnis: Sie fressen hin und wieder ihren Kot und versorgen sich auf diese Weise mit dem Vitamin. Wiederkäuer wie Kühe und Schafe erzeugen in ihrem Pansen Kobalamin, das gut vom Organismus verwertbar ist. Das Geheimnis der Inder: Ihr Getreide wird nicht mit Pestiziden tot gespritzt und gereinigt wie bei uns. In den Getreidekörnern leben winzige Insekten, die Vitamin-B12 liefern. Zudem ist ihr Trinkwasser mit Kobalamin erzeugenden Bakterien kontaminiert.
Von vegan lebenden Indern, die nach Europa gezogen sind, wurde bekannt, dass sie nach vielen Jahren einen Vitamin-B12-Mangel entwickelt haben. Es dauerte deshalb so lange, da der Körper sehr sparsam mit dem B-Vitamin umgeht und über einen großen Speicher, die Leber, verfügt. Der reicht bei Erwachsenen für drei bis etwa zehn Jahre aus, in wenigen Fällen sogar noch länger. Kinder dagegen besitzen einen viel kleineren Speicher – deshalb ist die vegane Ernährung für sie besonders gefährlich. Ebenso für Schwangere und Stillende, da sie einen erhöhten B12-Bedarf haben.
Ernährungswissenschaftler sind sich heute einig: Es ist ein Mythos, dass man ohne weiteres sämtliche tierische Produkte vom Speiseplan auf Dauer streichen kann. Vegetarische Ernährung ist möglich, sofern Milch und Milchprodukte verzehrt werden. „Diese Produkte liefern ausreichend Vitamin B12“, versichert Hahn. Vitamin B12 ist hitzestabil, so dass es durch Kochen nicht zerstört wird. Der B12-Bedarf lässt sich zum Beispiel mit mindestens 380 Gramm Milch und Milchprodukte pro Tag und einem Ei pro Woche decken.
Sojamilch ist kein vollwertiger Milchersatz
Die Milchprodukte liefern auch die anderen Stoffe, an denen Veganer häufig unterversorgt sind: „Protein, Kalzium, Vitamin D und Zink können problematisch sein“, erklärt Hahn. Seine Studien über Veganer haben ans Tageslicht gebracht, dass jeder dritte Veganer auch noch unzureichend mit Vitamin B6 versorgt ist. Dagegen seien klinisch dokumentierte Eisenmangelerscheinungen bei Veganern nicht häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung.
Wer aufgrund von Allergien oder anderen Umständen trotz allem auf vegane Ernährung angewiesen ist, „sollte ungedingt für entsprechende Nahrungsergänzung sorgen“, warnt Hahn. Das gilt in erster Linie für das Vitamin B12. In England beispielsweise ist es üblich, dass Veganer mit Vitamin B12 angereicherte Sojaprodukte verzehren. Handelsübliche Sojamilch dagegen ist als vollwertiger Milchersatz, nicht nur im Hinblick auf B12, völlig ungeeignet. „Es gibt auch Vitaminsäfte oder B12-Supplemente“, erklärt Hahn weiter. Er warnt in diesem Zusammenhang vor falschen Werbeversprechen verschiedener Nahrungsergänzungsmittel, die vor allem in Gesundheitsläden angeboten werden. Obwohl sie oft als ideale B12-Quelle gepriesen werden, sind weder Algentabletten noch Hefeprodukte geeignete B12-Lieferanten. Im Gegenteil: Sie enthalten vor allem unwirksame Pseudo-Kobalamine, die in der Lage sind, die Aufnahme des aktiven B12 zu blockieren. „Veganer werden hier absolut irregeführt“, kritisiert Hahn.
Wirksame Vitamin-B12-Tabletten müssen aktives Kobalamin (Cyanocobalamin oder Hydoxocobalamin) enthalten. Eine tägliche Zugabe von 5 µg Vitamin B12 sollte nach Einschätzung der Ernährungsexperten genügen. Zusätzlich raten sie Veganern an, regelmäßig ihren B12-Status untersuchen zu lassen, um kein Risiko einzugehen.
Bei langfristiger Einnahme von höher dosierten Vitaminpräparaten sollte jedoch beachtet werden, dass relativ wenig über die Wechselwirkungen dieser Stoffe im Körper bekannt ist. Meist stehen sie in Abhängigkeit zu anderen. Obwohl oft behauptet wird, dass überschüssiges B12 ausgeschieden wird, gibt es Hinweise, dass ein B12-Überschuss einen Eisenmangel begünstigen kann.
Deshalb ist auf Dauer der natürliche Weg der sicherste: Eine vollwertige, ausgewogene Ernährung, die alle Stoffe in ausreichender Menge und im richtigen Verhältnis liefert.
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