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„Iss! Wer isst, spricht nicht!“

Wahre Lokale (70 a und Schluss): Ein Abend auf der „Wielandshöhe“ in Stuttgart

Nackt und pelzig strich der sonst vorbildlich korrekte Mann um weibliche Gäste herum

„Ich nehme noch sechs Flaschen Mineralwasser, aber bitte nichts zu essen! Meine Linie, meine Linie!“, jammerte der Außenminister in völliger Verkennung seiner Lage. „Ich stecke noch immer im langen Abfluss zu mir selbst“, grinste er. „Ich möchte doch nur, dass mein Freund Colin Powell mich so gut findet wie vor ihm Madeleine Albright!“

Vincent Klink sah ihn ausdruckslos an. „Dein Weg ist hier zu Ende, Hungerharke. Und wenn du Gerhard Schröder in der Hölle triffst, bestell ihm: Wir schnallen den Gürtel weiter!“ Fischer wollte es noch einmal mit „Liebe Freundinnen und Freunde“ probieren, aber sein Parteitagstimbre zog hier nicht. Er gab den Löffel ab. Sein Bewunderer Campino ging als sein ganz persönlicher Kollateralschaden mit über den Neckar.

Auch Klinks Mannschaft, von den ungewöhnlichen Ereignissen aufgestachelt, kam jetzt aus der Hüfte. Sommelier Bernd Kreis sah von einer Sekunde zur anderen unrasiert aus. Barfuß wie die gleichnamige Wurst aus Westfalen hockte er sich auf einen Stuhl und rieb sich die wehen Zehen. „Amselfelder ist alles, was du von mir kriegst!“, rief er Rezzo Schlauch zu, der gerade mit seinen Leibwächtern auftauchte, laut und raumgreifend wie immer. Schlauch war ein verheerend schlechter Anwalt, aber er hatte immer auf den richtigen Parties herumgestanden und es deshalb in Schwaben zu einer Art Lokalgröße gebracht. Die Begrüßungsworte des Sommeliers irritierten ihn: „Rosenthaler Kadarka kannst du auch noch haben!“, rief Bernd Kreis und lachte. „Oder direkt aus dem Tetra-Pak saufen!“

„Aber aber, mein Guter“, drömmselte Schlauch und versuchte es auf die joviale Tour. Kreis winkte, Klink schnellte herbei – ein rascher Schnitt, und auch Schlauchs frischer Skalp zierte den Gürtel des Küchenhäuptlings.

„Du kommst unters Wiegemesser, du Gewürz!“ Klink, ein klassischer Homo ludens auf der Suche nach immer neuen Freuden, wandte sich Jürgen Schrempp zu, der an Tisch elf mit seiner Kreditkartensammlung spielte. Vor Schrempp bibberte das ganze Schwabenland: Wenn der Chef von Daimler-Chrysler hustete, hatte Württemberg die Grippe. Und das, obwohl man Schrempp ansah, dass er dereinst als Hakle feucht wiedergeboren würde. Schrempp legte den Kopf schief, als wäre er Sabine Christiansen. Hatte da jemand „Gewürz“ zu ihm gesagt? Oder „Gewürm“? Ganz dumpf versuchte der Daimler-Mann, die Sache tiefer zu hängen. „Dieser Klink ist ja wohl total auf Linse“, dachte er bei sich. „Der kriegt mich nie.“ Schrempp irrte. Und wie.

Sogar Herr Häfner, Starkellner der Wielandshöhe, hatte sich stark verändert: Nackt und pelzig strich der sonst so vorbildlich korrekte Mann um weibliche Gäste herum. Deren Entzücken war groß, denn Häfner war ebenso hübsch wie charmant. Zur Überraschung seiner Kundschaft hatte er sich den Körper mit allerlei Salat eingerieben und war, wie durch den Saal zu singen er nicht müde wurde, „richtig gut drauf“. Männlichen Konkurrenten stöpselte er mit Cohibastumpen die Nasenlöcher zu. „Alte Schule! Ditt ha’ ick in England so jelernt!“, erläuterte Häfner sein unorthodoxes Vorgehen. Als Hans-Olaf Henkel aufsässig wurde, gab ihm Häfner eine Schelle von hier bis Gütersloh – wo Sven-Georg Adenauer einen Kaltstart als Provinzenkel probierte, dabei aber vergaß, den Beinfleischstreifen zwischen Hosensaum und Sockenrand zu vermeiden, den Todesstreifen des Mannes, aaah . . .

Henkel indes verstand die Welt nicht mehr. Auf der Damentoilette hatte er versucht, sich einen Schuss Himbeersirup zu setzen, „weil Charlie Parker das auch gemacht hätte“, wie Henkel beteuerte. Aber sogar für ein bisschen falsches Drücken war der Mann zu dusselig. Deshalb wiederholte er auch penetrant den Schlachtruf, den Die Zeit sich von ihm hatte schenken lassen: „Meine Fackel lodert noch!“ Diese 0190er-Nummer, die streng nach „Profi-Präsidenten jetzt noch extremer!“ roch, zog allerdings überhaupt nicht im Waschraum für Mädels. So sah sich Hans-Olaf Henkel plötzlich vom gut gelaunten Häfner in die Küche geschubst und ging, wie er gelebt hatte: als Sparschlitzmund und Schnippelbohne, als Henkel zum Wegwerfen.

Allen Statusessern wurde der Garaus gemacht. Am Eingangstor zu den Ewigen Quittungsgründen ward es in dieser Nacht nicht mehr still. Nur auf der „Wielandshöhe“ kehrte langsam wieder Ruhe ein. Das Menü inmitten des Tohuwabohus beenden zu müssen, schmälerte die Freude nicht im Mindesten. Von allen schönen Abenden auf der „Wielandshöhe“ ist mir gerade dieser als einer der allerschönsten erinnerlich. WIGLAF DROSTE

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