30 Jahre Tunix-Kongress: Gegenmodell Deutschland
Bei "Tunix" ging es nicht um Nichtstun, sondern ums Machen, nicht um Revolutionsstrategien, sondern um die Praxis alternativen Lebens. Ein Teilnehmer erinnert sich.
Die Parole "Modell Deutschland", mit der die regierende SPD 1978 ihre Politik verkaufte, erschien mir damals wie ein Hohn. In den Jahren zuvor hatte es ausgereicht, mit etwas längeren Haaren und einer alten Mercedes-Heckflosse mit "Atomkraft - Pfui Deibel!"-Aufkleber herumzufahren, um dieses "Modell" hautnah zu spüren zu bekommen: in Form der Mündungen von MPs, die mir die Staatsgewalt bei ihren permanenten Straßenkontrollen entgegenhielt.
Schon ein paar solcher Äußerlichkeiten, die auf Nichtkonformität mit dem "Modell Deutschland" schließen ließen, reichten damals, um als potenzieller Terrorist zu gelten. Und es langte, zur Demo zum AKW Brokdorf zu fahren, um den martialisch bewaffneten Polizeistaat in Aktion zu erleben: Zehntausend Polizisten und Schützenpanzer der Bundeswehr bewachten einen Bauplatz.
Ich wohnte seit 1974 in Kreuzberg, studierte Literatur und Politik, lebte vom Taxifahren und empfand diese Verhältnisse als bleiern. Spätestens nachdem die RAF-Morde in den "Deutschen Herbst" gemündet hatten, musste auch dem Letzten klar geworden sein, dass mit Gewalt nichts zu machen war, um eine Gesellschaft zu ändern. Aber irgendetwas musste man tun. Die Antwort darauf war Tunix.
Für mich und die vielen tausend TeilnehmerInnen, die an diesen Tagen die TU Berlin überfüllten, hatte der Titel "Tunix" nichts mit Nichtstun oder Rückzug zu tun, sondern im Gegenteil mit einer Suche. Die theoretischen Konzepte des SDS und der Achtundsechziger waren so gescheitert wie der marxistische Dogmatismus der K-Gruppen, die Versuche, das Proletariat über Betriebsarbeit zum Klassenkampf zu führen, oder der "lange Marsch durch die Institutionen". Der Kern dieses Kongresses mündete in eine Frage: "Was tun?" - das war der Titel einer berühmten Schrift Lenins und damit ebenjenes Scherbenhaufens sozialrevolutionärer Theorien und Strategien, vor dem wir standen. Der Titel "Tunix" dagegen signalisierte in seiner ironischen, buddhadadaistischen Wendung, dass etwas getan werden musste, nicht theoretisch, sondern praktisch.
Dass es nicht mehr um Theorie ging, sondern ums Machen, dass es keine Organisationen und Parteikader braucht, sondern Individuen, die sich vernetzen; dass es nicht darum ging, das System und die Kultur zu stürzen, sondern darum, sich Nischen der Freiheit und Autonomie im System zu schaffen - eine Gegenkultur. Nicht mehr darum, über Alternativen zum Bestehenden zu reden, sondern sie zu leben, nicht mehr in phraseologischer Kapitalismuskritik zu verharren, sondern in Vorwegnahme sozialistischer und libertärer Utopien, diese im Kleinen, aber eben praktisch und lebendig, zu zeigen, zu demonstrieren. Als selbstbestimmtes Gegenmodell. Auf dem Programm stand nicht mehr die Weltrevolution, sondern - der Strand von Tunix.
Tunix war das Ergebnis einer Desorientierung von Linken, Spontis und Stadtindianern nach der Repressionswelle des Deutschen Herbstes - und das Ergebnis von Tunix war eine Neuorientierung auf Alternativen. Sie führte nicht, wie einige Links-Theoretiker mahnten, zur Entpolitisierung, einem Abgleiten ins Private und in individualistische Nabelschau, sondern in West-Berlin und einigen anderen Großstädten zu einer neuen Welle von Hausbesetzungen und einer Blüte, die seitdem "Alternativkultur" genannt wird. Mit diesen Biotopen alternativer Arbeits- und Lebenszusammenhänge wurde ein Kreativitäts- und Innovationspotenzial geschaffen, das dann tatsächlich vieles vorwegnahm, was heute völlig selbstverständlich ist.
Dass Tunix von einem Chronisten als "Woodstock in Räumen" bezeichnet wurde, ist nicht ganz verkehrt - auch wenn "Stars" auf diesem Kongress nur eine untergeordnete Rolle spielen und Prominente, wie etwa der französische Starphilosoph Michel Foucault, zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch völlig unprominent waren. Es war, wie man heute sagen würde, ein Community-Event, ein Experiment der Selbstorganisation und des Netzwerkens. Und die Stichworte dafür kamen weniger aus der klassischen Marx-Tradition und der Frankfurter Schule als aus den USA ("Grassroots" - Graswurzeln) und von den französischen Antipsychiatern und Postmarxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari ("Rhizom"). Ein wichtiger Impuls der traditionellen Achtundsechziger allerdings - der kommunitäre, antiautoritäre - setzte sich auch in der Tunixszene fort. Und zwar in den wie Pilze aus dem Boden schießenden alternativen Betrieben, Projekten, Läden und Stadtteilgruppen wurden avantgardistische Experimente wie das der "Kommune 1" von 1967/68 durchexerziert und ausprobiert und vorgelebt. Es war die Aufhebung der Trennung von öffentlich und privat, von Politik und Arbeit, von individueller und kollektiver Freiheit.
Vielen dieser Projekte war nur eine kurze Lebensdauer beschieden, viele scheiterten, ehe sie auf die Beine kamen, aber wie die gereimten Stichworte oben schon andeuten, gedeiht vieles bis heute. Es sind nicht nur die Bioläden und Ökobauern, die einst verlachten "Müslis" und "Körnerfresser", die inzwischen mit ihren Produkten selbst Discountmärkte beliefern.
Von der Diskussion über das "Projekt Tageszeitung" erinnere ich nur, dass Christian Ströbele und Günter Wallraff dabei waren und zwei Kollegen aus unserem Taxikollektiv - und dass alle im Saal die Notwendigkeit sahen, der Gehirnwäsche durch die im Zuge der Terrorhysterie nahezu gleichgeschalteten Großmedien zu entkommen, mit einer alternativen Tageszeitung. Da schon die erste Nullnummer im September 1978 mit fünf Tagen Verspätung erschien, gaben sogenannte Medienexperten dem Projekt keine Chance, zumal mit Die Neue zeitgleich eine weitere linke Tageszeitung auf den Markt kam, die zudem - mit DKP-Geldern und professionellen Journalisten - weitaus besser ausgestattet schien. Doch mit dem Dadageist von Tunix - Du hast keine Chance, aber nutze sie! -, der Kreativität des Chaos und der Genialität der Dilettanten hängte die taz die schon bei der Geburt antiquierte Neue meilenweit ab. So wie die Gründung einer alternativen Partei, die beim Tunixkongress diskutiert wurde, bald in den "Grünen" mündete, die den schon nur noch schwach atmenden K-Gruppen und -Parteien dann den Garaus machten.
Wie diese beiden langlebigen Pflanzen, die taz und die Grünen, haben auch viele andere Projekte aus diesem, wie wir früher sagten, "Zusammenhang" nicht ohne Wandlungen, Brüche und ständiges Scheitern überlebt. Aus der empathischen, sozialrevolutionären "Wir wollen alles und zwar sofort!"-Perspektive der frühen Siebzigerjahre könnte man sie gar als längst vom System absorbiert, integriert und somit als völlig gescheitert abwerten. Sagen jedenfalls Kritiker, denen alles nicht weit genug ging. Aber das sagten sie oft schon damals, und sie sollten vielleicht Recht behalten: Paradiese sind aber nie von dieser Welt. Denn in Wahrheit ist aus dem Tunixkongress mehr Gutes und Besseres hervorgegangen als alles, was sich deren TeilnehmerInnen damals hätten träumen können.
In der Tat, man muss es deutlich sagen: Das Paradies auf Erden haben wir, die wir damals zum Strand von Tunix aufbrachen, nicht finden oder aufbauen können. Und dennoch gibt es diesen himmelweiten Unterschied etwa zwischen taz und Bild-Zeitung, Grünen und CSU, Claudia Roth und Roland Koch. Die soziale Evolution kommt bei den domestizierten Primaten eben doch voran, wenn auch nur in winzigen Schritten.
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