: Heldenhafte Verbrechen
Kollaborateur oder Widerstandskämpfer? In seinem endlich übersetzten Roman „Die Dunkelkammer des Damokles“ lässt der niederländische Erzähler Willem Frederik Hermans den Leser bis zur letzten Seite im Ungewissen – und installiert stattdessen eine beklemmende Paranoia
Willem Frederik Hermans (1921–1995) war kein einfacher Zeitgenosse. So zitierte er einmal seinen Amsterdamer Verleger Geert van Oorschot vor den Richter, weil dieser bei einer Neuausgabe seines Werks die Korrekturen des Autors nicht angemessen berücksichtigt hatte. Und dasselbe hätte er wohl am liebsten auch mit dem Minister gemacht, der ihn 1972 zur Ehrung mit einem der höchsten niederländischen Literaturpreise beglückwünschte und ihm ein Preisgeld von 17.000 Gulden in Aussicht stellte. Wenige Tage später musste sich der Minister wegen eines Tippfehlers entschuldigen: die Auszeichnung sei nicht mit 17.000, sondern nur mit 7.000 Gulden dotiert. Hermans antwortete erbost, der Minister könne unter diesen Umständen den Preis behalten, da er nicht von jemandem ausgezeichnet werden wolle, dessen Unterschrift von einem Tag auf den anderen um 10.000 Gulden im Wert sinke.
Ähnlich rigoros verhielt er sich auch bei den Übersetzungsrechten zu seinem wohl berühmtesten Werk „Die Dunkelkammer des Damokles“ aus dem Jahre 1958. Weil seiner Ansicht nach die bisher von ihm auf Deutsch erschienenen Romane von ihren Übersetzern Jürgen Hillner, Helga van Beuningen und Barbara Heller völlig verhunzt worden seien, belegte er das Buch mit einem Übersetzungsverbot.
Dass wir es nun endlich doch noch zu lesen bekommen – und zwar in einer Übersetzung von Waltraud Hüsmert, an der selbst Hermans wohl nicht allzuviel zu mäkeln gehabt hätte –, verdanken wir Birgit Peter vom Verlag Gustav Kiepenheuer in Leipzig. Unter Einsatz ihres Charmes und ihrer Überredungskunst war es ihr gelungen, den Sohn des großen Schriftstellers (und Rechteinhabers) von der Überfälligkeit einer deutschen Übersetzung des Romans zu überzeugen – ein Ereignis, über das seinerzeit sogar in den Medien berichtet wurde.
„Die Dunkelkammer des Damokles“ ist die Geschichte des Zigarrenhändlers Henri Osewoudt, der in den Wirren der deutschen Besatzung 1940 bis 1945 Besuch von einem gewissen Dorbeck erhält, der sich ihm als Widerstandskämpfer vorstellt. Dorbeck und Osewoudt gleichen sich wie ein Ei dem anderen – oder besser: wie ein Negativ einem Positiv gleicht, wobei Osewoudt mit seinem mädchenhaften Aussehen und der verkorksten Ehe mit einem unansehnlichen Weibsstück das misslungene Gegenstück zu dem vor Männlichkeit strotzenden Kriegshelden Dorbeck ist.
Dorbeck erteilt Osewoudt Aufträge, die dieser treu ergeben und ohne viel zu fragen durchführt: die Entwicklung geheimen Filmmaterials, die Weiterschleusung einer Agentin aus England oder auch die kaltblütige Liquidierung von Nazi-Kollaborateuren samt ihres Anhangs („Er hielt ihren Hinterkopf an den Haaren fest und brach ihr an der Spülsteinkante das Genick“). Er versinkt dabei immer tiefer in eine Welt der Geheimbündelei, der Angst und des Verrats, wird verhaftet, befreit und flieht in seinen Unterschlupf, eine Art Widerstandsnest, das jedoch in derselben Nacht noch von der deutschen Polizei ausgehoben wird. Erneut gelingt ihm die Flucht, und er kann sich in den bereits befreiten Süden des Landes absetzen.
„Wenn der Krieg vorbei ist, [. . .] bekomme ich einen Orden“, glaubt Osewoudt, doch stattdessen wird er nach Kriegsende verhaftet und des Landesverrats beschuldigt. Denn seine vermeintlichen Heldentaten im Namen des Vaterlands entpuppen sich plötzlich als von langer Hand vorbereitete Versuche der Besatzer, mit Hilfe ihrer Marionette Osewoudt in die Widerstandskreise einzudringen und sie von innen zu zerschlagen. Osewoudt beteuert seine Unschuld, doch alle Zeugen, die für ihn aussagen könnten, sind entweder tot oder nicht mehr auffindbar; der einzige Beweis für die Wahrheit seiner Behauptungen – ein Foto, das ihn gemeinsam mit seinem Doppelgänger Dorbeck zeigt – wird beim Entwickeln unbrauchbar. Osewoudt versucht ein letztes Mal zu fliehen und wird dabei erschossen.
„Die Dunkelkammer des Damokles“ lässt seinen Leser – dank eines raffinierten Erzähltricks – bis zur letzten Seite im Ungewissen, was er von der Geschichte zu halten hat. Hat es Dorbeck wirklich gegeben oder handelt es sich bei ihm lediglich um eine Ausgeburt der Fantasie Osewoudts? Genau diese Frage war es auch, an der sich die „Hermans-Forschung“ entzweite. Beide Schulen, die „Realisten“ wie auch die „Relativisten“, können zwar gute Argumente für ihren jeweiligen Standpunkt anführen, doch dem Leser geht es dabei wie mit dem Roman selbst: für jeden Beweis gibt es einen ebenso schlüssigen Gegenbeweis, der jede Chance zunichte macht, der Wahrheit doch noch ein Stück näherzukommen.
Und was sagte Hermans dazu, als man ihn noch fragen konnte? Nichts, denn in seinem, wie er es nannte, „sadistischen Universum“ gibt es keinen Platz für Wahrheit und Logik: die Wirklichkeit ist nur ein anderes Wort für Chaos. So besteht die eigentliche Quintessenz des Romans gerade darin, wie es der Literaturkritiker Thomas van den Bergh vor einigen Jahren in der Rückschau auf eines der „100 schönsten Bücher des Jahrhunderts“ formulierte, „dass die Frage nach der Existenz Dorbecks nicht beantwortet werden kann. Die beklemmende Paranoia, die er seinen Lesern zumutet, bildet eine der größten Attraktionen dieses Romans.“
Wohl wahr, obwohl das nicht jeder so sieht, wie van den Bergh in seiner Bilanz fortfährt. So habe beispielsweise der holländische Fußballnationalspieler Ruud Gullit einmal auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch geantwortet: „‚Die Dunkelkammer des Damokles‘ von W. F. Hermans. Schwach fand ich nur, dass man am Schluss immer noch nicht weiß, ob dieser Dorbeck nun existiert oder nicht.“ Aber kann es eigentlich ein schöneres Kompliment für einen Roman geben, als dass er seinen Leser auch ohne „Botschaft“ noch zu fesseln vermag? GERD BUSSE
Willem Frederik Hermans: „Die Dunkelkammer des Damokles“. Übersetzung aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Mit einem Nachwort von Cees Nooteboom. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2001, 415 Seiten, 39,90 DM
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