: Das Dekonstruktionsluder
Spaß an Freud: Avital Ronell arbeitet unverdrossen an einer dekonstruktivistischen Kulturtheorie. In den Neunzigerjahren gab es dafür eine Nachfrage. Heute provoziert die Freestyle-Philosophin damit zuweilen aggressive Gegenreaktionen
von JAN ENGELMANN
Häufig erleben wir, dass ein politisches Fieber die Sprache befällt, die Register des Uneigentlichen lähmt und keine metaphorischen Ausflüchte mehr erlaubt. Bestimmtheit und Einfachheit sind dann – entgegen besserem Wissen – das Gebot der Stunde. Es überrascht nicht, dass insbesondere Intellektuelle dagegen aufbegehren. Schließlich sehen sie sich in einem solchen Fall um ihr Material betrogen, das in den Händen von Entscheidern zu einer absonderlichen Neusprak verkommt. „Uneingeschränkt“ beispielsweise ist eine blöde Vokabel mit guten Siegchancen beim Unwort-Wettbewerb des Jahres 2001. Sie käme wohl denjenigen niemals über die Lippen, die sich ernsthaft um die gegenseitige Durchdringung von Sprachmacht und Wirklichkeit, Bedeutung und Politik sorgen.
Die gebürtige Pragerin Avital Ronell, die an der New York University Literaturtheorie lehrt, bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Als das Kunstmagazin Artforum sie neulich bat, von ihrem Leseverhalten nach den Terrorattacken zu berichten, sprach sie davon, dass ihre „internen Sender“ ausgefallen seien und sie geradezu süchtig sei nach „Äußerungsformen, die berühren, stimulieren und die Angst umlenken“. Auf ihrem Nachttisch fänden sich derzeit daher die Briefe Rilkes, Kleists Kohlhaas, eine Überlebensration Lyrik von Byron bis Bachmann sowie „The Book of Nightmares“ von Galway Kimmell.
Das Bedürfnis nach einem Ausgleich des Emotionshaushalts, nach beruhigenden Einflüsterungen toter Autoren und eskapistischen Gespenstergeschichten mutet auf den ersten Blick banal an. Zugleich lässt Ronells Wortwahl aber auch eine medientheoretische Grundhaltung erkennen, die Literatur mehr zutraut als nur Tröstung oder Erbauung. Das alternative Programm, das Ronell dem Gefühlsterror entgegensetzt, ist dasjenige, das sie bereits in ihrem Erstlingswerk „Dictations: On Haunted Writing“ von 1986 behandelte. Dort ging es vordergründig um die eigentümliche Konstellation zwischen Goethe und Eckermann, vor allem aber um ein Aufschreibesystem, das Unmengen aufgeschobener Begehren umfasst, eine spukhafte Versammlung von entfernten Stimmen. Natürlich wollen Klarsichtprediger so etwas nicht hören, ganz egal, ob es um einen Dichterfürsten oder andere lieb gewonnene Institutionen geht. Aber Avital Ronell ist bekannt dafür, sich das Rederecht zurückzuholen, das durch Sprachregelungen gekapert wird.
In einem Gespräch für Re/Search von 1991 beschrieb sie den Golfkrieg als manische Phase Amerikas, als libidinöses Vergnügen an der „sauberen“ High-Tech-Zerstörung und unbewusste männliche Abwehr von Blut. Damals wurde sie als „Elfenbeinturm-Terroristin“ bezeichnet, deren Freestyle-Philosophie die Grundfesten Amerikas erschüttere. Für diese Charakterisierung konnte sie nichts, und ein entsprechender unbarmherziger Gestus wurde von Ronell denn auch nicht durchgehalten. Stattdessen erschien sie auf den begleitenden Fotos in betont weichen, sehr artifiziellen Posen, als ein pseudonaturalistischer Troll mit verklärtem Fernwehblick. Dieser gewagte Auftritt sollte schon auf visueller Ebene ihr Plädoyer für einen vergnüglichen, schonungslosen, frevelhaften Feminismus unterstreichen. Ronell ging an gleicher Stelle aber noch weiter. Wie um die alte Forderung „Das Private ist politisch“ zu überbieten, sprach sie freimütig über ihr prämenstruelles Syndrom und das diesbezügliche Unverständnis ihres Dienstherrn.
Eine solche Nabelschau berührt peinlich und führt zuweilen zu aggressiven Gegenreaktionen. Die Medienwissenschaftlerin Joan Hawkins berichtet in einem Beitrag für das E-Zine ♂ HYPERLINK „http://www.ctheory.org“ www.ctheory.org, dass anlässlich der Lektüre eines Ronell-Textes in ihrem Seminar ein Student sich abfällig über „diese Dekonstruktionsschlampe“ geäußert habe. Nun kennt die amerikanische Öffentlichkeit zwar nicht den Boulevardausdruck Luder für lästige und aufdringliche Frauen, sehr wohl kennt sie allerdings beharrliche Kritikerinnen mit Cultural-Studies-Lehrauftrag. Für Hawkins ist das Schlampenverdikt nicht nur ein beredtes Zeugnis für den wahren Status quo der akademischen Gender-Debatte, sondern auch Ausweis dafür, wie sich der schon lange anhaltende Backlash gegen irgendwie komplizierte Texte mit der aktuellen Losung nach zupackender Praxis vereine: „Die Intellektuellen scheinen zu glauben, es sei Zeichen eines schlechten Geschmacks, in diesem Moment zu intellektuell, zu abstrakt zu sein, (. . .) jeder Versuch, Theorie zu verleugnen, indem man dem 11. September als einer sehr diffusen und traumatischen Sache eine lineare Struktur überzustülpen versucht, bedeutet unweigerlich, diese Episode zu rahmen, sie in Zeit und Raum einzufrieren und ihres Kontextes zu berauben.“
Nicht-lineares Schreiben, das virtuos mit Quellen und Kontexten jongliert, ist die Spezialität von Avital Ronell. In ihrem Buch „Crack Wars: Literatur, Addiction, Mania“ (1992) behandelt sie auf kongeniale Weise das Thema der Sucht. Es geht dort um zerstörerische Vergnügen, aufputschende Momente und narkotische Phasen, und entsprechend arbeitet der Text mit langsamen Steigerungen, Geschwindigkeitsräuschen und abfallenden Kurven. Ein „diskontinuierlicher Fluss“, wie sie selbst dazu sagt.
Das gleiche Verfahren kennzeichnet auch „The Telephone Book: Technology, Schizophrenia, Electric Speech“ von 1989, das jetzt in der Übersetzung von Rike Felka auf Deutsch erschienen ist. Auch wenn die äußere Gestaltung des Buches, mit seinen gelben Seiten und den hübschen kleinen Telefonminiaturen dies nahe legt, ist es natürlich kein alltagspraktisches Suchverzeichnis. Wenn es hier ein klares System der Verweise gibt, dann jenes zwischen einer grundsätzlichen telefonischen Logik und der Geistesgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Das Telefon, jener „unwiderstehliche Eindringling“ (Marshall McLuhan) in die zwischenmenschliche Kommunikation, eignet sich in besonderer Weise dazu, imaginäre Selbstverhältnisse anschaulich zu machen – schon aufgrund seiner paradoxen Leistung, Nähe via Distanz, Einheit in Zweiheit herzustellen.
Ronell organisiert ihr Vorhaben, dem Telefon in Philosophie, Kunst, Psychoanalyse, Dichtung und Technik nachzuspüren, konsequenterweise selbst innerhalb einer telefonischen Anordnung, mit ihr als operator. So wird der Anruf des SA-Hochschulamtes, der Heidegger ereilte und zum Komplizen des NS-Staates werden ließ, in eine Konferenzschaltung gebracht mit seinem Begriff des Rufs, den er zwar existentialphilosophisch ausdeutete, aber gleichzeitig auch wortreich umkurvte. Ronell weist nach, dass Heidegger, der „Denker des Ferngesprächs par excellence“, sämtliche Unwägbarkeiten, die sich aus dem „Mitsein“ des Anderen in der (An-)Leitung des Selbst ergeben, rigoros abschnitt.
Das Telefonkabel ist Heideggers Nabelschnur zu den Staatsorganen, aber ebenso ist es die Schizo-Leine, die ein gespaltenes Bewusstsein in entlegene Bereiche führt. Ronell zitiert ausgiebig aus Fallgeschichten von C. G. Jung und Ronald D. Laing, um ihre versteckte These zu entfalten, dass das telefonisch angerufene Selbst ein Speicher ist, „der vollgetankt ist mit aufgesparter Andersheit“. Nicht nur einmal ist man hier versucht, Ronells Wörtlichnehmen der Bemerkung Freuds, das Unbewusste sei wie ein Telefon strukturiert, in einen Dialog zu bringen mit Woody Allens neuem Film „Im Bann des Jade Skorpions“. Dort verläuft die mit krimineller Energie betriebene Gedankenübertragung aus der Ferne ganz ursächlich und materiell über Telefonate (die seit je wichtige Handlungsträger im Kino darstellen).
Natürlich begegnet uns auf Ronells Pfad der Psychoanalyse auch allerlei Seltsames wie „invaginierte Ohren“ und dergleichen. Aber dann ist es wieder toll zu sehen, wie die Mosaiksteinchen ein überzeugendes Bild ergeben. Beispielsweise bei Alexander Graham Bell. Dieser entstammte einer Familie, die eine obsessive Beschäftigung mit Sprachfähigkeit von Generation zu Generation vererbte. Der Großvater, ein bekannter Vokalphysiologe, und der Vater, der Erfinder einer „visible speech“ für Taubstumme, gaben schon die Borderline-Probalistik vor, die Bell einmal fast dazu brachte, eine Stimmgabel zu schlucken. Er war angeleitet vom Begehren, die organischen Defekte seiner sprachgestörten Mutter und Ehefrau zu ersetzen und damit das „ödipale Drama der Substitution“ auf eine neue Ebene zu hieven. Nicht von ungefähr hatten die Gerätschaften, die er dazu ersonn, ein explizit phallisches Aussehen. Daneben war der Tod ein wichtiges Motiv dieses Wunschmaschineristen. Bell hatte schon früh seine zwei Brüder verloren und teilte deshalb die Faszination seines Helfers Thomas A. Watson für Séancen und die Kontaktaufnahme zu Verstorbenen. Insofern hatte das Telefon, noch ehe es überhaupt erfunden war, seine Signatur durch ein Abwesendes erhalten. Es brauchte nur noch jemanden, der in die Rolle des Königs schlüpfte und die „Vaterschaft“ der Apparatur für sich reklamierte.
Man merkt schon, es theweleitet gewaltig in diesem wilden, in unzählige Nebenhandlungen ausufernden Text, und auch Friedrich A. Kittlers Medienarchäologie „Grammophon, Film, Typewriter“ trifft hier auf eine Schwester im Geiste. Doch Ronells Wiedereinschreibung von femininen Spurenelementen in die Mediengeschichte ähnelt mindestens ebenso Sadie Plant, die in ihrem Buch „Nullen und Einsen“ Frauenfiguren wie Ada Lovelace, Miterfinderin des Computer-Vorläufers, oder Freuds Tochter Anna ein Denkmal setzte. Wer diese Bücher aufgrund ihres teils lustvollen, teils strapaziösen Detektivspiels schätzt, wird auch hier gut bedient.
In den Neunzigerjahren stand die spekulative Medientheorie ein wenig in dem Ruf, postpolitisch zu sein und vor allem an Metaphern zu stricken, um altbackene Technikskepsis in ein neues Gewand zu hüllen. Dabei ist gerade dies eine eminent politische Aufgabe. So verweist auch der Automatismus des Antwortens, den Ronell an Heidegger kritisiert, auf die kommunikative Beschaffenheit der politischen Sphäre. Einer der bedeutsamsten Telefonanrufe der letzten Zeit war jener, den Bush wenige Tage nach dem 11. September tätigte, um vor laufenden Kameras New Yorks Bürgermeister Giuliani für den engagierten Einsatz der Feuerwehrleute zu danken. In diesem Moment, in dem die gängigen Vorstellungen von Intimität und körperlicher Absenz am Telefon in ihr Gegenteil verkehrt wurden, entpuppte sich gleichzeitig das Regime der Lüge, dem die Technik zuarbeitet. Kurz nach seinem öffentlichkeitswirksamen Lob der Freiheit gab Bush die Order, unter dem Banner der Terrorismusbekämpfung verstärkte Abhörmaßnahmen einzuleiten. Ronell erinnert uns: „Ein Staat legt ein Verbindungsnetz um sich selbst, aus dem die Todesblume der Einheit unter der Sonne konstanter Überwachung hervorgehen kann.“
Avital Ronell: „Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, Elektrische Rede“. Brinkmann & Bose, Berlin 2001. 464 Seiten mit Abb., 85 DM. Ihr neues Buch „Stupidity“ erscheint in diesen Tagen bei University of Illinois Press.
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