Pro und Contra Adorno-Preis: Ist Judith Butler preiswürdig?
Am Dienstagabend wurde Judith Butler der Adorno-Preis verliehen. Das war umstritten – sechs Meinungen zur Preiswürdigkeit der Philosophin.
Pro: Margit Rodrian Pfennig
Eine bessere Wahl hätte das Kuratorium nicht treffen können. Judith Butler hat nicht nur die feministische Theorie von ihren biologistischen und identitären Verkürzungen befreit, sondern queer-feministisches Denken in die politische Philosophie eingeschrieben.
Sowohl ihre Gender- wie ihre Subjekttheorie sind beide genuin politisch, weil sie von einem radikaldemokratischen Ansatz ausgehen. Studierende, die sich mit ihren Schriften auseinandersetzen - und dabei das sorgfältige Lesen als Bereicherung entdecken - verändern ihr Denken. Mit Butler werden gerade jungen Menschen Zwänge und Normen, denen wir unterliegen und denen wir verhaftet sind, erkennbar und benennbar. Das macht vorsichtiger darin, schnelle Urteile zu fällen oder autoritativ zu sprechen. Auch das, im Übrigen, verbindet Judith Butler mit Theodor W. Adorno.
Margit Rodrian-Pfennig ist Dozentin für Politikwissenschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Contra: Detlev Claussen
Adorno-Preis für Antisemiten? Nein, niemals. Judith Butler ist keine Antisemitin; sie vertritt nur politisch dumme Ansichten. Für die Stadt Frankfurt ist der Adorno-Preis Teil der Stadtreklame - große Namen, möglichst weltberühmt und unumstritten. Die Jury vergibt den Preis meist nach dem Prominentenprinzip: Wenn schon nicht Künstler oder Musiker, dann akademische Weltstars. Warum also nicht Zizek oder Agamben? Mit Adornos Art zu denken haben sie so wenig zu tun wie Butler.
Es war Teil der Habermasschen "Invention of Tradition" nach 1987, Adornos kritische Theorie als Philosophie von gestern darzustellen, die er ohne jegliches Sprachgefühl international nicht für "anschlussfähig" hielt. Also nach ihm selbst lieber einen linguistisch geturnten Wellmer als Rolf Tiedemann, der Adornos Oeuvre gesichert hat, oder als einen Oskar Negt in der antitraditionellen Tradition der Kritischen Theorie.
Die Torheit, akademische Reputation von politischer Einsichtsfähigkeit zu trennen, rächt sich. Man kann akademischer Showstar und realitätsferner politischer Dummkopf zugleich sein - siehe Judith Butler.
Detlev Claussen ist emeritierter Professor für Soziologie
Pro: Aleida Assmann
Nicht die Person Judith Butler ist skandalös, sondern der Streit, der über sie entstanden ist. Das Antisemitismus-Argument ist eine Nebelbombe, die verhindern soll, dass man über die Probleme redet, die Butler anspricht.
Und so muss sich jetzt Judith Butler rechtfertigen, anstatt dass über ihre Themen gesprochen wird, für die sie zu Recht mit dem Adorno-Preis der Stadt Frankfurt geehrt wird. Die Art und Weise, wie sie aktuelle ethische und politische Fragen philosophisch durchleuchtet und dabei die Würde der Entrechteten und Abgeschriebenen einklagt, ist absolut beeindruckend. Diese Philosophin versteht es, in einer Welt der Kriege und Eskalationen eine neue Sprache der Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erfinden und mit ihr zugleich eine Praxis verantwortlicher Zuwendung und Empathie.
Aleida Assmann ist Kulturwissenschaftlerin an der Universität Konstanz
Contra: Jewgenij Singer
Es ist eine denkbar schlechte Wahl! Einen ehrwürdigen Preis an jemanden zu vergeben, der die Hamas und Hisbollah (bewusst oder unbewusst) legitimiert und durch die Unterstützung der "Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)"-Kampagne die israelischen Institutionen pauschal und bewusst delegitimiert, ist kaum eine gute Wahl!
Denn der Adorno-Preis, nach einem Gelehrten benannt, der wegen seiner jüdischen Vorfahren aus Frankfurt, aus Deutschland fliehen musste und der stets Sympathien für den Staat Israel hegte, sich immer wieder gegen jegliche Form von Gewalt ausgesprochen hat, diesen Preis in Frankfurt an Judith Butler zu vergeben ist eine tragische Farce!
Jewgenij Singer ist Vorsitzender des Bundesverbandes Jüdischer Studierender in Deutschland
Pro: Felix Semmelroth
Judith Butler wird ausgezeichnet als herausragende Philosophin und Literaturwissenschaftlerin besonders wegen ihrer Beiträge zum Verhältnis von Identität und Körper, zur Geschlechterforschung und zur Moralphilosophie. Sie hat nach Auffassung des Kuratoriums wesentliche Beiträge zu einem neuen Verständnis von Kategorien wie Geschlecht und Subjekt - besonders in der Auseinandersetzung mit Hegel - geleistet. Dafür soll sie mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis geehrt werden.
Natürlich ist die derzeitige Kritik einsichtig und verständlich. Überraschend aber ist, dass diese so scharf ausgefallen ist und nicht zwischen einzelnen Aussagen Butlers und ihrem Gesamtwerk differenziert wird. Davon abgesehen hat Frau Butler mittlerweile eine eindeutige Klarstellung vorgenommen. Kritik an ihrer Person kann aber keine Veranlassung sein, die Entscheidung eines unabhängigen Kuratoriums zu revozieren.
Felix Semmelroth ist Kulturdezernent der Stadt Frankfurt am Main
Contra: Yakov Hadas-Handelsman
Wir sind nicht in der Position, die wissenschaftlichen Verdienste von Judith Butler zu beurteilen, aber wir können diese nicht unabhängig von ihren Ansichten gegenüber Israel betrachten.
Professorin Butler hat sich entschieden, an vorderster Front derjenigen zu stehen, die einen Boykott Israels befürworten. Im Zentrum ihrer Agenda steht es, Israelis zu boykottieren, weil sie Israelis sind. Es ist bestürzend, dass ein Preis, der in Erinnerung an ein Opfer der Nazidiktatur und ihrer Boykotte gegen die Juden vergeben wird, an eine Frau verliehen wird, die einen Boykott von Juden als legitimes Mittel ansieht.
Yakov Hadas-Handelsman ist Botschafter des Staates Israel in Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen