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Gauck in Rostock-Lichtenhagen„Wir fürchten euch nicht“

Bundespräsident Joachim Gauck nannte die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen „leider bis heute ein Brandmal“. Auch „Heuchler!“-Rufe waren zu vernehmen.

Gauck spricht vor dem Sonnenblumenhaus im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Bild: dpa

ROSTOCK taz | Joachim Gauck hebt seinen Blick und holt tief Luft, ehe er zu seiner Ansprache ansetzt. Er steht auf der Bühne; hinter ihm erhebt sich ein kolossaler Plattenbau, ein ocker geklinkertes Wohngebirge, das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen; vereinzelt lehnen Rentner auf den Fensterbänken. „Die Ereignisse, die uns zusammengeführt haben, sind zwar Vergangenheit“, sagt der Bundespräsident. „Aber auch die Gegenwart bleibt infiziert von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt.“

Vor ihm auf den überdachten Sitzplätzen haben sich Regionalpolitiker, Journalisten und Ehrengäste niedergelassen, auch ein paar Vietnamesen sind darunter. Dahinter drängen sich die Menschen hinter der Absperrung. Es mögen mehr als 1.000 sein, vielleicht 2.000. Polizisten mit schwarzen Einsatzanzügen und Schlagstöcken haben sich dazwischen verteilt.

Gauck nähert sich seinem heiklen Thema behutsam, er spricht mit ruhiger Stimme und zurückhaltenden Gesten, oft in einer Haltung, die daran erinnert, dass er früher einmal ganz in der Nähe als Pfarrer gearbeitet hat.

An diesem Sonntag gedenkt Rostock der schlimmsten rassistischen Ausschreitungen in Deutschland seit dem Kriegsende. Im August 1992 hatte sich ein Mob vor dem Sonnenblumenhaus versammelt, über Tage belagerten rechtsextreme Gewalttäter das Gebäude, in dem Asylbewerber und vietnamesische Gastarbeiter lebten. Die Gewalttäter warfen Steine und Brandsätze, das Haus fing Feuer, und rund 3.000 Schaulustige standen dabei und klatschten dazu Beifall.

„Heuchler, Heuchler, Heuchler“

Rostock, es ist wieder August, 20 Jahre später. Auf der Wiese hinter dem Sonnenblumenhaus herrscht eine gelöste, wenn auch etwas gedämpfte Stadtfeststimmung: Gerade hat ein Kinderchor gesungen, Paare und Familien schlendern in der Sonne umher, es gibt Bierstände, Luftballons und Bratwürstchen.

Joachim Gauck muss auf einer schmalen Gerade die Balance wahren: Einerseits wird von ihm erwartet, dass er klare Worte findet. Andererseits muss er achtgeben, die Rostocker nicht zu brüskieren, die sich noch immer schwer damit tun, ihre Erinnerungen zu verarbeiten. Hin und wieder wird er während seiner sorgfältig strukturierten Rede auch schärfer, härter.

„Ich frage mich bis heute: Wie konnte die Staatsmacht das Gewaltmonopol so scheinbar schnell und leichtfertig aufgeben?“, fragte er. Die Demokratie müsse wehrhaft sein; sie brauche mutige Bürger, die nicht wegschauen, ebenso wie einen Staat, der in der Lage ist, Würde und Leben zu schützen.

Doch Joachim Gauck stößt auch auf Widerspruch: Er hat kaum zu reden begonnen, da erhebt sich aus dem Publikum ein Sprechchor: „Heuchler, Heuchler, Heuchler.“ Etwa ein Dutzend antifaschistische Demonstranten, denen der Bundespräsident offenbar in seiner Ansprache nicht weit genug geht. Gauck spricht weiter, als sei nichts geschehen; er bringt die Schwierigkeiten der Wendezeit zur Sprache und lobt die Rostocker für die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sie seither in Gang gebracht haben. Dann sagt er: „Wir versprechen euch Rechtsextremen: Wir fürchten euch nicht. Wo ihr auftaucht, werden wir euch im Wege stehen.“

„Er ist ja auch einer von uns“

Die Bundesrepublik, betont Gauck, sei heute ein Einwandererland; und natürlich komme es auch zu Herausforderungen und Konflikten, wenn Menschen verschiedener Kulturen zusammenleben. Auch würden sich die Ängste vor dem Fremden nie ganz beseitigen lassen. „Doch der Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet werden“, sagte er, „das Dunkle und Böse lassen sich nur durch Vernunft und Empathie eindämmen.“

Als Bundespräsident Joachim Gauck schließt, bleibt Raphael Gerhard, 47 Jahre alt, noch einen Moment an der polizeilichen Absperrung stehen. „Ich fand es gut, dass er auch versucht hat, unsere Seite zu sehen“, meint der Lichtenhäger, der die Krawalle damals miterlebt hat. „Kein Wunder, er ist ja auch einer von uns. Wenn das Volk den Präsidenten in Deutschland wählen könnte, dann hätten wir alle für Gauck gestimmt.“

Auch die Rostockerin Ulla Tiggesbäumker ist mit der Ansprache zufrieden. „Sicher“, meint sie, „es waren viele Allgemeinplätze dabei, aber man muss es aussprechen. Und ich fand es mutig, dass er frei bekannt hat, dass wir hier im Osten wirklich ein Problem mit den Rechtsextremen haben.“

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23 Kommentare

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  • C
    chemwarrior

    Einfach ekelhaft was den Leuten immer wieder eingetrichtert wird. Dieser Herr Gauck soll sich erst mal outen wer er wirklich ist.Und für wen er Lügen verbreitet. Dass er nie verurteilt wurde trotz Stasidienstgrad. Es ist einfach ekelhaft zu sehen,wie rechtschaffende Menschen diesem Rattenfänger hinterher laufen. Und Rostock hat sich mit der Ehrenbürgerschaft eines Nichtrostockers einen Bärendienst erwiesen. Einfach mal recherchieren.!!!

  • B
    behrang
  • J
    joa...

    wo finde ich denn die ganze rede?

    kann mir jemand helfen?

  • B
    bernd

    Was nach Rostock-Lichtenhagen bis heute fehlt und auch von Herrn Gauck nicht aufgenommen wurde, ist die Aufarbeitung der Ereignisse, die mit dem Pogrom in Lichtenhagen einen Höhepunkt im "Jahrzehnt der BrandSätze" (Ulrich Herbert) darstellen:

     

    Die Ereignisse vor 20 Jahren fanden genauso wenig wie die Morde des NSU im luftleeren Raum statt, sondern werfen weitreichende Fragen auf nach dem gesellschaftlichen Klima:

     

    Rostock steht für einen (mörderischen) Mix aus Brand-Sätzen (Medienhetze gegen "Asylanten" von FAZ, Spiegel, Süddeutsche und Bild => "Die Grenzen der Belastung sind erreicht", "Das Boot ist voll"...) die in der Tat auch zu geworfenen Brandsätzen wurden. Die Politik hatet eine massive sichtbare Diskriminierung von Flüchtlingen geschaffen und diese unter menschenunwürdigen Zuständen auch in der ZAST in Rostock-Lichtenhagen untergebracht. Trotz Warnungen wurde die Situation der Fluchtsuchenden nicht verbessert. Der Mob sammelte sich und die Polizei, die Politik hat nicht nur versagt, sondern offensichtlich billigend in Kauf genommen, die Situation eskalieren zu lassen, um das Grundrecht auf Asyl in direkter Folge einzuschränken (Artikel 16GG). Somit sind die Politik, die Medien, der ganz "normale Rassismus" sowie eine verbreitete autoritäre politische Kultur die Folie, auf der Lichtenhagen und die anderen vielen rechten Morde zu betrachten sind. Die Porgrom-Meute führte radikal und konsequent das weiter, was in den Medien (quasi) gefordert ("Ausländer raus", "Rettet Deutschland vorm Untergang") und von der Politik/Verwaltung bewußt laufen gelassen schien.

     

    In dieser Hinsicht sind rechtsextreme Gewalttäter auch nicht die anderen/ die personifizierten Bösen auf die man in Sonntagsreden angeekelt zeigen kann. Nein, sie sind Teil und Ausdruck von unserer Gesellschaft, die inhaltlichen Übergänge von rechtsaußen zur sogenannten Mitte sind fließend, wie Herr Sarrazin eindrücklich herausgeschrieben hat. Auch der NSU hat mehr mit der Verfassheit unserer Gesellschaft zu tun, als den meisten von uns lieb ist.

     

    Diesen Bogen und die daraus erwachsene Herausforderungen und Verantwortungen wurden von Herrn Gauck nicht wirklich angesprochen. Mehr Toleranz-Forderungen sind symphatisch und menschenfreudlich, gehen aber am tieferliegenden und auch strukturellen Problem des Rassismus vorbei. In diesem Sinne habe ich auch die Heuchler-Rufe verstanden.

  • KR
    kurt russel

    Es gibt kein Volk auf der großen weiten Welt, dass sich so lustvoll selbst mit Dreck bewirft, wie das Deutsche. Das ist so peinlich und abstoßend, wie unser hiesiges Lokalblättchen, welches sich heute auf 4 von 8 Seiten mit dem "Kampf gegen Rechts" beschäftigt.

  • V
    vic

    "wir brauchen mutige Bürger, die nicht wegschauen"

     

    Auf die die Staatsmacht einknüppeln, sie mit Tränengas und Wasserwerfern traktieren, und sie schließlich einsperren kann.

  • C
    @Carsten:

    Wenn Gauch nicht grade Sarrazin als mutige Person bezeichnet oder sich mit Erika Steinbach solidarisiert, dann zieht er eben als Lehre aus der Vergangenheit den Schluss, dass es ein stärkeres Gewaltmonpol brauche - neben mutigen Bürgern, die sich gegen Rassismus wehren. Wieviel zynismus in dieser Leere steckt hat sich doch '92 gezeigt. Da ging das Gewaltmonpol '92 plötzlich äußerst "wehrhaft" gegen Linke und Antifaschisten vor, die sich nach Rostock aufgemacht hatten, um dem Mob die Stirn zu bieten. Noch am selben Abend durfte der Mob dann ungestört weiter randalieren und hetzen.

  • TG
    Thorsten Gorch

    die "Rechten", bzw. der mörderische Mob der sich als Bürgertum tarnt (manche meinen sogar dass es da eine größere Schnittmenge gibt), fürchtet auch den Gauck nicht. Warum auch? Jeder weiß: der Gauck ist im Zweifel einer von ihnen und im entscheidenden Moment sehr weit weg. Später wird dann relativiert und Bodennebel verbreitet. Dazu ist dann einer wie Gauck wichtig.

  • W
    wetterleuchten

    Die Aufarbeitung der deutschen Nazi-Zeit wird erst dann gelungen sein, wenn deutsche Politiker bis zu den Bürgermeistern statt von Rechtsextremen, besser von Neo- oder Alt-Nazis sprechen. Auch Gauck drückte sich aus falscher Rücksichtnahme und sprach lieber von Gewaltherrschaft, dem Lieblingswort in der Politik für Nazi-Verbrechen. Seine Rede war mir zu wenig emotional in der Sache,zu sehr auf Schonung der Bürgerlichen Mitte ausgerichtet. Ob sich die Rechtsextremen beeindruckt fühlen? Jedenfalls führte ein direkter Weg von Rostock zu den NSU-Morden. Deutschland müsste sich mit seiner Bu-Regierung noch heute vor der Welt für dieses Pogrom entschuldigen!

  • W
    Weinberg

    Das waren "starke" Worte von Bundespastor Gauck!

     

    Wo bleiben aber seine Taten? Wird er gar bei der nächsten Demonstration gegen Neonazis dabei sein?

     

    Gauck sollte auch nicht vergessen, dass seine Eltern glühende Nazis waren. Demzufolge ist Wiedergutmachung angesagt ...

     

    Interessant ist, die Teilnehmerzahlen zu vergleichen. Am Samstag beteiligten sich rd. 7.000 Menschen an der Lichtenhagen-Demonstration.

     

    Bei der heutigen offiziellen (staatlichen) "Fürchtet-Euch-nicht-Demonstration" waren es rund 1.000 Teilnehmer und um die 2.000 Polizisten.

     

    Das sollte zum Nachdenken anregen!

  • RA
    ralf ansorge

    an hensel,du weißt selbst,daß du lügs ,die stasi wollte ihn als im larve hat ihn aber nicht gekriegt,aber das weißt du selbst.

    auch ich bin antifaschist,aber auch antikommunist.diese selbsternannten antifas haben in hamburg mal wieder die maske fallen lassen.da werden auch schon mal die messer gezogen gegen leute die nicht ganz so "links" sind.und die wollen andere über demokratie belehren.kurzum ,beide seiten des extremismus sind mir gleich zuwider,bestenfalls sind die linksextremisten das etwas kleinere übel.regiert werden möchte ich von denen aber auch nicht noch mal.ich denke der hauptgrund für den haß der in diversen internetforen gauck entgegenschlägtist,daß er viele siner kritiker intelektuell überfordert.auch linke verbreiten geren einfache "wahrheiten" und halten sich dabei noch für die besseren menschen.

  • C
    Carola

    Was bitte macht die Zwischenrufer der Gauck-Rede zu "Antifaschisten"?

  • D
    D.J.

    @hui-buh,

     

    "Und was anderes fällt dem zum Gedenken an die Menschenhatz in Rostock nicht ein oder wie?"

     

    Es gibt eine großartige Erfindung, das Internet. Ja, Sie sitzen gerade davor. Sie haben die Möglichkeit, die Rede im Wortlaut zu verfolgen. Vollständig (z.B. auf Spiegel Online). Das heißt, Sie können sich selbst ein Bild machen, statt nach einem aus dem Zusammenhang gerissenen Satz zu urteilen.

    Für mich eine großartige Rede, eine kluge Rede, frei von falschen Rücksichten, auch nicht gegenüber seiner eigenen Heimat. Ich bin heilfroh, dass wir kein inhaltsleeres Phrasengewäsch seines Vorgängers in dem Zusammenhang hören mussten.

  • D
    dreadnought

    Nach der organisierten Berichterstattung zu zwei Mördern und deren Freundin (NSU) nun die chronischen Berichte zu Rostock-Lichtenhagen.

     

    Liebe Presse, sehr geehrte Mitarbeiter des Bundespräsidenten:

    Wer die NPD verbieten will, sollte dies einfach tun. Es bedarf keiner medialer Vorbereitung der Bevölkerung.

     

    Die eigentlichen Fragen sind aber nach wie vor unbeantwortet:

     

    1. Woraus resultierte die (grenzenlos übersteigerte) Wut der Rostocker?

     

    2. War die Erziehung der SED zu unpolitischen „Ja“-sagern verantwortlich für die undemokratischen Denkmuster?

     

    3.Lohnt es sich, Probleme wie den Asylmissbrauch offen zu benennen, oder ist es besser politisch-korrekt zu schweigen und stattdessen blöd chronisch die Phrasen „Rassismus“ und „Nazi“ auszukotzen?

     

    Rostock-Lichtenhagen war und ist ein Schandfleck der gemeinsamen Deutsch-Deutschen Geschichte. Er ist aber auch ein Schandfleck für die politische Kaste und für die Medien, welche manche Probleme aus Prinzip ignorieren.

     

     

    Politische Ignoranz aus politisch-korrekter Grundhaltung heraus hat etwas vom Suff:

     

    BEIDE LÖSEN DIE PROBLEME NICHT.

  • W
    womue

    Das ist es ja, was ihn so überzeugend macht. Er befriedigt immer zuerst alle Seiten. Bevor er sich selber einen runterholt.

  • BF
    brain freeze

    @ Carsten

     

    Ist Gauck nicht derselbe Biedermann, der dem Brandstifter Sarazzin Mut bescheinigte?

  • H
    hui-buh

    "Wenn man sich über die Bedingungen der Zuwanderung einige, „werden wir Zuwanderer nicht vor allem als Problem empfinden..."

     

    Was soll denn jetzt so ein menschenfeindlicher Spruch? Und was anderes fällt dem zum Gedenken an die Menschenhatz in Rostock nicht ein oder wie?

     

    Dieser selbstverliebte Typ mit seinem altbackenen Weltbild als 1. Mann des Staates geht für mich überhaupt nicht klar.

  • D
    D.J.

    @Hensel:

     

    "Heuchler wegen seiner Stasi-Vergangenheit als IM Larve"

     

    Wenn Sie Gauck als IM bezeichnen, wäre es dann auch statthaft, Sie als dummlinken Vollpfosten zu bezeichnen?

  • A
    aaww

    Gauck heuchelt nicht, er vergißt nur nachzudenken

  • E
    emil

    läuft ja prächtig, wenn der staat das gewaltmonopol inne hat und einfach nicht reagiert.

  • B
    Buerger

    dann mal los Herr Präsident:

     

    In Herzogenrath bei Aachen werden am 23. August 2012 2 türkische Frauen von Rechten in die Intensivstation geprügelt und keiner schreibt ein Wort darüber!

    Heuchler gibt es in der Republik wie Sand am Meer!

  • C
    Carsten

    Was hatten die "Heuchler"-Rufer für Argumente?

  • S
    Sich.-Ing.J.Hensel

    Heuchler wegen seiner Stasi-Vergangenheit als IM Larve ?