: Kleine Einführung in die Datenspionage
„Der fiktive Staat Ozeanien möchte die Telekommunikation seiner Bürger überwachen“: Wie die Universität Hannover einem Skandal entging, George Orwell Recht behielt und ein Professor seine Informatik-Studenten foppte
Es klingt haarsträubend, was die Hannoveraner Informatikstudenten in der vorigen Woche als Hausaufgabe bearbeiten sollten. „Der fiktive Staat Ozeanien möchte die Telekommunikation seiner Bürger überwachen. Zu diesem Zweck soll eine Datenbank erstellt werden.“
Anschließend sind die Studenten gehalten, anhand eines Diagramms nicht nur alle Bürger Ozeaniens mit Namen, Adresse, Geburtsdatum und Geschlecht zu speichern – die Telekommunikationsverbindungen der Ozeanier sollen auch noch in Daten und Sprache überwacht werden und auf Schlagwörter wie etwa „Revolution“ gefiltert.
Datenüberwachung, Wörter filtern, das klingt nach Skandal. Uni Hannover züchtet Schäubles willige Vollstrecker! Und überhaupt, so eine Aufgabe stellt man ja nicht einfach so. Wer weiß, was dahinter steckt. Vielleicht der Bundesnachrichtendienst, oder die CIA, oder der Mossad oder oder oder.
„Das ist, als würde man Medizinern beibringen, wie man Menschenexperimente plant“, empört sich ein Student. „Niemanden scheint etwas besonderes daran aufzufallen!“ In der Veranstaltung sei der Dozent Udo Lipeck zudem nicht auf Datenschutz oder die Kollision zwischen Datenspeicherung und Bürgerrechten eingegangen. Auf Nachfragen erhalten die Studierenden höchstens ausweichende Antworten: Sie werden darauf hingewiesen, dass man ihnen leider keine Hilfestellung geben könne. Abzugeben ist die Hausaufgabe am heutigen Dienstag.
Der Chaos Computer Club erklärt dazu, dass es sich hier keinesfalls um einen Zufall handeln kann – Ozeanien sei schließlich eine der drei Supermächte in George Orwells 1984. „Gerade in der Datenverarbeitung und -speicherung fungieren Informatiker als kleinster gemeinsamer Nenner“, erklärt ein Sprecher. „Sie tragen dort enorm viel Verantwortung.“ Auch das noch. Auch Tobias Dorfmüller von der Piratenpartei Niedersachsen ist über den Ländernamen irritiert. „Es ist interessant, dass gerade dieser Ländername gewählt wurde“, meint der Landesvorsitzende. „Gut möglich, dass doch etwas mehr Überlegung dahinter steckt.“
Und siehe da, der Mann von der Piratenpartei hat Recht – allerdings anders, als er dachte. Auf Nachfrage bei Udo Lipeck stellte sich heraus: Von Skandal kann keine Rede sein. „Wir haben hier in Hannover leider keine begleitende Veranstaltung für den Bereich ‚Informatik und Gesellschaft‘, wie es ihn etwa an der Uni Dortmund und der TU Berlin gibt“, sagt der Dozent. Das Institut wolle keineswegs Studenten für halblegale Projekte vereinnahmen. Vielmehr habe er mit der Aufgabenstellung seine Studenten provozieren wollen und prüfen, ob die Aufforderung, am Überwachungsstaat mitzuarbeiten, stillschweigend hingenommen wird. „An vielen Stellen ist es leicht möglich, Datenbanksysteme zu missbrauchen. Darauf wollte ich meine Studenten aufmerksam machen.“
Natürlich könne man die Entity-Relationship-Modelle auch anders üben, sagt Lipeck noch. Mit dem Tempo, in dem die Hausaufgabe bei der Zeitung gelandet sei, habe er das Ziel der Veranstaltung allerdings erreicht.
Alles nur ein Irrtum, das konnten die Studenten ja nicht wissen. Und dass Unwissenheit Stärke ist, lehrte bereits George Orwell. JESSICA RICCÒ