: Die Andersgläubigen
Die Fronten bei „Pro Reli“ scheinen klar: SPD, Linke und Grüne sind dagegen, CDU und FDP dafür. Nicht nur SPD-Grande Thierse schert aus, auch einzelne Grüne und Liberale stehen gegen die Linien ihrer Parteien
In zweieinhalb Wochen, am 26. April, können beim Volksentscheid „Pro Reli“ 2,45 Millionen Berliner Wahlberechtigte darüber abstimmen, ob Schüler künftig zwischen Religion und dem bisherigen Pflichtfach Ethik wählen dürfen. „Pro Reli“, das vor allem von der evangelischen und katholischen Kirche und der CDU unterstützt wird, braucht für einen Erfolg nicht nur eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Eine zweite Hürde besagt, dass mindestens 25 Prozent aller Wahlberechtigten mit Ja votieren müssen, rund 612.000. An dieser Vorgabe war im April 2008 der erste Volksentscheid gescheitert, der den Flughafen Tempelhof offenhalten wollte. Dafür gab es zwar eine klare Mehrheit, aber mit 21,7 Prozent der Wahlberechtigten zu wenig Jastimmen. STA
VON STEFAN ALBERTI
Der SPD-Sprecher mühte sich nach Kräften. Dass der Landesparteitag verlegt worden sei, habe mit Terminproblemen von Gastredner Frank-Walter Steinmeier zu tun und nun ganz und gar nichts mit Wolfgang Thierse und „Pro Reli“. Am 25. April hatten die Sozialdemokraten tagen und Thierse zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl machen wollen. Dass am nächsten Tag der Volksentscheid über die Schulfächer Ethik und Religion ansteht, wäre im Grunde kein Problem – wenn nicht Thierse – anders als die Berliner SPD – „Pro Reli“ unterstützte. Der Partei drohte ein Kommunikationsdesaster. Jetzt tagen die Sozis Mitte Mai.
Thierse hatte zumindest einzelne Genossen stark verärgert. Unter anderem verglich er das von der SPD eingeführte Pflichtfach Ethik mit dem staatlich verordneten Weltanschauungsunterricht der DDR. An anderer Stelle wurde er in die gleiche Richtung zitiert: „Unsere Verfassung verbietet, dass sich der Staat Wertebevormundung anmaßt.“ Unverhohlene Kritik daran ist aber meist nur hinter vorgehaltener Hand zu hören. Offiziell heißt es etwa vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, in einer Volkspartei gebe es eben unterschiedliche Auffassungen zu Einzelthemen.
Thierse ist zwar mit seiner Haltung der prominenteste Andersdenkende in den Berliner Landesparteien, aber bei weitem nicht der einzige. Das gilt nicht nur in der SPD. Auch bei den Grünen und der FDP gibt es Politiker, die die jeweilige Parteilinie zum Volksentscheid nicht mittragen. Das weicht die so starr wirkenden Fronten zwischen Rot-Rot-Grün als „Pro Reli“-Gegnern und Schwarz-Gelb als Befürwortern auf. Nur bei der Linkspartei und bei der CDU sind keine prominenten Abweichler bekannt.
Bei den Sozialdemokraten gab es zwar bei einer Abstimmung im Abgeordnetenhaus keine einzige Stimme für „Pro Reli“, zumindest bei einzelnen liegt aber der Verdacht nahe, sie hätten die Fraktionsdisziplin über die eigene Meinung gestellt. Dabei verläuft die Trennlinie durchaus nicht zwischen Gläubigen und Atheisten. Auch Fraktions- und Parteichef Michael Müller, ein vehementer Ethik-Befürworter, ist evangelischer Christ und – wie sein Sprecher versichert – zumindest gelegentlicher Kirchgänger.
Außerhalb des Abgeordnetenhauses befürworten allerdings neben Wolfgang Thierse weitere namhafte Berliner Sozialdemokraten das „Pro Reli“-Ziel, zwischen dem bisherigen, für alle Schüler verpflichtenden Fach Ethik und Religion wählen zu können. Exbundesministerin Christine Bergmann steht auf einer entsprechenden Unterstützerliste, genauso wie der frühere Pankower Bürgermeister Alex Lubawinski. Auf Bundesebene haben sich SPD-Spitzenkandidat Steinmeier, in Ostwestfalen geboren, aber in Zehlendorf zu Hause, und die Parteivize und überzeugte Katholikin Andrea Nahles für „Pro Reli“ ausgesprochen.
Alex Lubawinski (58) ist anders etwa als Nahles kein zutiefst religiöser Überzeugungstäter. Der Pankower Exbürgermeister wurde zwar katholisch getauft, trat aber noch zu DDR-Zeiten aus der Kirche aus. „Ein gewisser Glaube ist noch vorhanden“, sagt er. Zum „Pro Reli“-Unterstützer macht ihn seine Erfahrung aus Vorwendezeiten. „In der DDR habe ich am meisten unter dem alleinigen Wahrheitsanspruch der führenden Partei gelitten“, sagte Lubawinski, „ ich war Lehrer für Staatsbürgerkunde, ich weiß, wovon ich spreche.“
Druck oder böse Worte aus der SPD soll es nicht gegeben haben, nachdem er sich als „Pro Reli“-Unterstützer outete. Mag seine Offenheit daran liegen, dass für ihn kein politisches Amt mehr auf dem Spiel steht? „Das hätte ich als Bürgermeister nicht anders gemacht. Entweder man steht zu etwas, oder man kann es gleich sein lassen.“ Lubawinski hat ein gewisses Verständnis für Kritiker, die in der Diskussion um „Pro Reli“ generelle Kirchenfeindlichkeit durchscheinen sehen: „So richtig vom Tisch wischen würde ich das nicht.“
Thierse, Bergmann, Lubawinski – sie alle kommen aus Pankow. Das sei eben kein Zufall, meint Lubawinski. Nicht weit entfernt, 10 Kilometer nordwestlich von Berlin, wurde in einem Pfarrhaus in Schwante im Oktober 1989, über einen Monat vor dem Mauerfall, die SDP gegründet, die Sozialdemokratische Partei in der DDR. „Und in die SDP kamen viele von der evangelischen Kirche, die ja die Keimzelle des Umbruchs war“, sagt Lubawinski.
Doch auch außerhalb von Pankow und im Westen gibt es Genossen, die „Pro Reli“ unterstützen. Detlef Dzembritzki gehört dazu, der Reinickendorf seit 1998 im Bundestag vertritt. „Innerhalb der Partei diskutieren wir doch schon seit 15 Jahren und länger über Religionsunterricht“, sagt der 66-Jährige, der sich seit Langem in der evangelischen Kirche engagiert. Bloß hätten sich die Vorzeichen verändert. Früher sei es darum gegangen, denen, die Religion abwählten, eine Alternative jenseits einer Freistunde in der Eisdiele zu bieten. Dass heute Religion keine gleichberechtigte Alternative neben Ethik ist, stört Dzembritzki.
Anders als Wowereit und die führenden Genossen hätte er es für richtig gehalten, den Volksentscheid mit der Europawahl am 7. Juni zu verbinden und so die Beteiligung zu erhöhen. „Der Vorwurf des Taktierens ist nicht aus der Welt zu räumen.“
Zumindest in Reinickendorf sei seine Haltung akzeptiert, sagt Dzembritzki, „der Landesvorsitzende war natürlich erst gar nicht begeistert.“ Akzeptanz erwartet er in jedem Fall: „Manche kommen eben von der Bergpredigt zur SPD und andere vom Marxismus – für beide muss Platz sein.“
Nicht nur in der SPD gibt es solche Andersdenker. Als das Abgeordnetenhaus im März namentlich über einen Antrag zu „Pro Reli“ abstimmte, votierte bei Grünen und FDP je ein Parlamentarier gegen die ansonsten eindeutige Fraktionslinie.
In der 23-köpfigen Grünen-Fraktion war es der Bauexperte Andreas Otto (47), in Templin geboren und – auch er – in Pankow zu Hause, der allein „Pro Reli“ unterstützte. Otto sieht sich geprägt davon, dass im Osten vor 1989 viele Kirchengemeinden der Raum für staatsunabhängiges Denken und geistige Freiheit waren. „Als Bewohner der DDR war ich in und außerhalb der Schule mit der marxistisch-leninistischen Staatsreligion konfrontiert“, sagt er. Für ihn gilt: „Der Staat darf keine Zivilreligion aus sich selbst heraus kreieren und diese als Wertemonopol an der Schule installieren.“
Otto sieht sich durch seine Position nicht isoliert: „In der Fraktion wird meine Haltung respektiert. Vielleicht besonders, weil es ein verbreitetes Unbehagen gibt, für die rot-rote Religionsfeindlichkeit mit in Haftung genommen zu werden.“
Eine Ende 2008 wiederbelebte Arbeitsgemeinschaft bündnisgrüner ChristInnen, die nach eigenen Angaben rund 20 Mitglieder hat, steht im gleichen Lager wie Otto. „Wir wollen zeigen, dass Christsein und Bündnisgrünsein durchaus vereinbar ist“, sagt AG-Sprecher Thorsten Maruschke. „Ein nicht unerhebliches Wählerpotenzial der Bündnisgrünen sieht das im Übrigen genauso.“ Auf der Seite der nominellen „Pro Reli“-Unterstützer fällt der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Rainer-Michael Lehmann aus dem Rahmen. Der 48-Jährige unterstützt den gemeinsamen Ethikunterricht für alle Schüler. Wie der Grüne Otto begründet Lehmann diese Haltung mit seinen Erfahrungen aus der DDR – aber mit einer ganz anderen Schlussfolgerung. „Ich bin der Meinung, dass Kirche nicht in die Schule gehört“, sagt Lehmann, der sich selbst einen überzeugten Atheisten nennt.
Mit seiner Haltung ist Lehmann zwar in der Fraktion allein, aber nicht in seiner Partei. Wolfgang Lüder (71) ist als Exwirtschaftssenator und Exbundestagsabgeordneter einer der prominentesten Politiker, den die Berliner FDP je hatte. Und zudem, obwohl evangelisch getauft, seit den 60er-Jahren wie Lehmann Atheist. Lüders Haltung zu „Pro Reli“: „Wer Kinder nach Religionen trennt, führt sie zur Intoleranz. Deswegen muss es Ethikunterricht für alle zusammen geben.“ Diese Position hat Lüder auch der Parteispitze und dem Fraktionschef Martin Lindner geschrieben – ohne eine Antwort bekommen zu haben. Zumindest einen kleinen Erfolg verzeichnet er: „Immerhin weist Herr Lindner seit einem Hinweis von mir darauf hin, dass es auch Atheisten in der FDP gibt.“