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Archiv-Artikel

Lebensgefühl Katastrophe

Zeitgenössische Theaterstücke aus Israel präsentierten sich beim F.I.N.D.-Festival an der Berliner Schaubühne. In Sachen Israelkritik macht dieser jungen israelischen Autorenszene keiner was vor

VON DOROTHEA MARCUS

Bei Theatereinlass Ausweiskontrolle. Zwei Soldaten mit Maschinenpistolen stehen an den Türen des Schaubühnensaals, herrschen die wartenden Zuschauer an und lassen lange Schlangen entstehen, bis das Gastspiel „Plonter“ (Verworren) beginnt. „Ich wollte die Situation mal umkehren“, sagt die Autorin und Regisseurin des Stücks Yael Ronen. Die Soldaten sind Palästinenser und sollen israelische Zuschauer ahnen lassen, was es heißt, an einem Checkpoint zu stehen. Viele, oft Linksintellektuelle, gehen in Tel Aviv daraufhin aus Protest nach Hause, erzählt sie.

Die 31-jährige Regisseurin und Autorin Yael Ronen ist eine der Entdeckungen des diesjährigen F.I.N.D.-Festivals an der Berliner Schaubühne. Dies Festival internationaler neuer Dramatik fand am vergangenen Wochenende statt, diesjähriger Schwerpunkt: Israel. Für Ronens Inszenierung haben israelische und arabische Schauspieler monatelang gemeinsam geprobt, mit Videokameras auf Tel Avivs Straßen recherchiert, bis ein verwobener Teppich aus aberwitzigen Szenen zustande kam, der dem israelischen Alltag wütende Komik abtrotzt: Die israelische „Schutzmauer“ wird durch das Haus einer palästinensischen Familie gebaut, sie muss zum Zähneputzen einen Soldaten passieren. Ein orientalisch aussehender Israeli betritt mit Rucksack einen öffentlichen Bus und muss sich nackt ausziehen. Ein israelisches Paar kocht für arabische Gäste und verheddert sich in Klischees.

Das Bühnenbild ist eine zerteilbare Mauer, auf die Videoszenen projiziert werden: Trauernde, Demonstranten, Sargträger oder einfach Menschen, die über die Mauer laufen. Der „echte“ Fernseher ist dagegen ein schnell sprechender Schauspieler, der mal aus palästinensischer, mal aus israelischer Sicht von Terroranschlägen plappert – und zeigt, wie sehr sich die Propagandamaschinen ähneln.

Auch in Ronens Stück „Reiseführer in ein gutes Leben“, ebenfalls beim Festival aufgeführt, grundiert der Terror das Leben gehetzter Großstadtmenschen: ein Fernsehreporter, der von Anschlag zu Anschlag hastet, ein Liebesdoktor, der seine Frau mit einem Aktmodell betrügt, Soldaten, die eine Leiche schänden. Sie schlagen sich durch den Dschungel des Alltags, ständig läuft der Fernseher und schrillt das Telefon: eine Hektik, in der niemand mehr etwas spürt und Moral nur das Zeitmanagement stört.

Auch in weiteren aufgeführten Stücken schlägt Hektik die Moral. Im Stück „Der Unfall“ von Hillel Mitelpunkt überfahren drei Menschen einen Chinesen und begehen Fahrerflucht. Es erzählt meisterhaft, wie verdrängte Schuld auf die Schuldigen zurückfällt und jede folgende Familienkatastrophe ihren Ursprung in diesem Ereignis hat, selbst auch die Bußfahrt der jüngsten Tochter nach China kann nichts an der Verderbtheit der Verdrängung etwas ändern. „In Israel frühstücken wir um 10, um 12 Uhr ist ein kleiner Krieg, und dann gehen wir zum Friseur“, beschreibt der 57-jährige Autor Hillel Mitelpunkt das Lebensgefühl der Dauerkatastrophe.

Es muss ein nahrhafter Boden für Kreativität sein. In Deutschland könnte man neidisch werden, wenn man hört, welche immense Bedeutung zeitgenössisches Theater in Israel hat. Klassiker werden so gut wie gar nicht gespielt, 80 Prozent der Stücke sind von zeitgenössischen Autoren, die Menschen gehen wie besessen ins Theater – bis zu 500 Vorstellungen gibt es von einer Produktion. „Die Menschen brauchen das wie ein Lagerfeuer, um ihre Probleme psychologisch zu bearbeiten“, sagt der Regisseur, Dramaturg und Übersetzer Abihail Milstein in perfektem Deutsch bei einer Diskussion zum Festival. Und die dritte Generation in Israel? „Wir sind jetzt nicht mehr nur die Opfer, sondern auch die Henker – und müssen uns völlig neu definieren“, bringt der Autor Shlomi Moshkovitz das Lebensgefühl seiner Generation auf den Punkt.

Urvater der jungen israelischen Autorenszene ist der 1943 geborene Hanoch Levin, auch heute der meistgespielte Autor in Israel, der rund 60 Stücke geschrieben hat und 1999 an Krebs gestorben ist. Levin protestierte bereits in den 70er-Jahren gegen die offizielle israelische Trauerkultur und leitete den Theaterboom ein. Als er seine ersten Stücke schrieb, wirkten seine satirisch grundierten Proteste gegen israelische Selbstgefälligkeit nach dem Sechstagekrieg wie ein Tabubruch. Schauspieler wurden auf der Bühne mit Tomaten beworfen, Bodyguards mussten die Vorstellungen schützen.

Auch der Form nach bleibt Levin der experimentellste Theaterautor beim Festival. In „Mord“ wechselt sich eine brutale, poetisch verkürzte Sprache mit grotesken Kinder- und Kabarettliedern ab. Gefolterte beginnen, lieblich zu singen, während Figuren realistische Stoßseufzer von sich geben: „Unsere Urenkel werden nicht wissen, worum es gegangen ist“ – „Das aufregende Leben in Asien habe ich so satt“. Die israelisch-palästinensische Gewaltspirale aus Schuld und Rache zieht sich immer weiter, es geht nicht um Freiheitskampf oder gerechte Verteidigung, sondern auf beiden Seiten schlicht um das endlose Morden der Bestie Mensch. Als „Mord“ 1997 uraufgeführt wurde, war es noch möglich, Palästinenser in Bussen zu den Vorstellungen zu bringen und danach zu diskutieren – in der Schaubühne erzählt ein Dokumentarfilm von diesen Theaterbegegnungen. Dann begann die letzte Intifada.

Israelische Stücke handeln von kollabierenden Familienstrukturen, von Betrug und Lüge, Verdrängung und Schuld im Alltag und der Politik. In der Form ähneln sich die vorgestellten Stücke auffallend. Sie sind gut gebaut und könnten als Fernsehspiele durchgehen, aber sprachlich sind sie bodenständig bis banal. „Israelische Zuschauer wollen richtige Geschichten. Wenn man sie nicht nach fünf Minuten gepackt hat, sind sie weg“, meint Hillel Mitelpunkt trocken – und wenn es nicht Levin gäbe, wäre man geneigt, ihm zu glauben.

Kann man israelische Stücke außerhalb eines Festivals an deutschen Theatern zeigen, wie es jetzt immer häufiger geschieht? Yael Ronen ist dabei unbehaglich zumute. „Ich will nicht, dass meine Israelkritik deutsche Vorurteile bestätigt“, sagt sie, „man verliert als Autor die Kontrolle über den kulturellen Kontext.“ Die Kritik eines Israeli über die israelische Gesellschaft klingt anders, wenn sie von deutschen Schauspielern gesprochen wird.