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Archiv-Artikel

„Der Raketenschild spaltet Europa“

INTERVIEW BETTINA GAUS UND LUKAS WALLRAFF

taz: Herr Bahr, Sie werden 85 Jahre alt. Worauf sind Sie im Hinblick auf Ihre politische Tätigkeit am meisten stolz?

Egon Bahr: Viermächteabkommen, Grundlagenvertrag und die Formel der gemeinsamen Sicherheit.

Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher lässt sich nachrühmen, er habe vorhergesehen, dass die Politik des früheren sowjetischen Präsidenten Gorbatschow zur deutschen Einheit führen werde. Glauben Sie, dass das stimmt, und nehmen Sie für sich dasselbe in Anspruch?

Den ersten Teil der Frage kann ich nicht beantworten. Ich kann nur sagen: Ich war zeit meines Lebens sicher, dass es die Einheit geben wird. Aber ich war Mitte der 80er-Jahre auch genauso sicher, dass ich das nicht mehr erleben werde.

Sie haben in den letzten Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass die Interessen von Europa und den USA nicht mehr deckungsgleich sind. Ist die Nato noch das geeignete sicherheitspolitische Bündnis der Zukunft?

Ja, natürlich.

Warum?

Es ist das einzige internationale Instrument, durch das die USA institutionell mit Europa verbunden sind. Wer sollte das ändern wollen? Übrigens sind die baltischen Staaten, die Polen, die Tschechen und die Ungarn auch deshalb glücklich, dass es die Nato gibt, weil damit Sicherheit vor Deutschland garantiert ist.

Wenn es aber objektiv widerstreitende Interessen innerhalb der Nato gibt, wäre dann nicht eine europäische Verteidigungsgemeinschaft eine Alternative?

Ich würde sie mir sofort als Ergänzung wünschen.

Als Ergänzung bedeutete dies die Errichtung von Doppelstrukturen.

Das ist ein Totschlagargument. Wenn ich davor Angst habe, muss ich bei der Nato eine Unterwerfungserklärung abgeben. Die Selbstbestimmung Europas ist verbunden mit einer eigenen Armee und damit auch einer selbstständigen Einsatz- und Führungsfähigkeit.

Noch mal: Warum dann die Nato?

Die Entwicklung zu einer selbstbestimmten EU wird es nicht mit allen EU-Mitgliedern geben. Es wird unausweichlich sein, dass man sich einen Kern sucht und sagt: Wir machen das mit den Staaten, die fähig und willens sind – hoffentlich werden das mal mehr. Solange das so ist, bleibt die Nato unentbehrlich. Andernfalls schafft man einen machtfreien Raum für die Staaten, die nicht zu Kerneuropa gehören. Ich sehe außerdem, dass die größte Machtentfaltung mit Arroganz und Unipolarität in den USA zwischen 2001 und 2005 stattgefunden hat. Seit 2005 hat Amerika einen Kurswechsel vorgenommen, der durch die Lage im Irak unausweichlich wurde, nämlich: Die verachteten Vereinten Nationen werden um Hilfe gebeten. Die verachtete Nato wird um Hilfe gebeten. Amerika hat also gelernt, dass es sich auf die Multipolarität einstellen muss. Auch weil China und Indien wachsen und Russland infolge der höheren Energiepreise ebenfalls stärker wird.

Sie haben 2003 geschrieben: „Amerika befindet sich im Krieg. Europa nicht.“ Stimmt das so noch?

Ich fürchte, wir sind in einem Übergangsstadium, weil es sich in Afghanistan um eine Situation handelt, in der man Kriegsbedingungen akzeptieren muss.

Halten Sie es heute für einen Fehler, in Afghanistan interveniert zu haben?

Ob das ein Fehler war, kann ich nicht sagen. Es ist geschehen. Aber ich muss einen Irrtum von mir feststellen. Ich war der Auffassung, dass die Erfolgsaussichten größer seien als beim sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, weil die amerikanische Militärtechnologie ungleich besser ist als die sowjetische. Heute muss ich sagen: Im Prinzip ist die Situation nicht so viel anders als damals. Ich kann nicht ausschließen, dass das ein Land ist, in dem es unmöglich ist, zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben. Es sei denn, wir sind bereit, etwa eine Million Männer und Frauen für die nächsten zehn Jahre dort zu stationieren.

Stichwort „Raketenabwehr“. Im Zusammenhang damit ist jetzt von einem neuen Kalten Krieg die Rede. Übertreibung oder berechtigte Sorge?

Übertreibung.

Was sind eigentlich die US-Interessen in diesem Zusammenhang?

Ich denke, dass die sich nicht verändert haben, seit Präsident Reagan angekündigt hat, er wolle eine Raketenabwehr in Westeuropa stationieren. Die Analyse ergab auch damals, dass das ein Spaltpilz für Europa gewesen wäre. Wenn jetzt die Systeme etwas weiter östlich stationiert werden, nämlich in Polen und Tschechien, dann kann ich mir genau vorstellen, was die Russen dazu sagen.

Das muss man sich nicht einmal vorstellen – sie sagen es ja bereits.

Sie müssen es sagen. Die Systeme schließen eine potenzielle Bedrohung Russlands mit ein. Wenn auch noch Überlegungen angestellt werden, sie in Georgien zu installieren, ist das erst recht ein Ausweis der mindestens partiellen Konfrontationspolitik der USA gegen Russland.

Warum ist die Furcht vor einem neuen Kalten Krieg dann übertrieben?

Es droht eine Rüstungsspirale. Aber der Kalte Krieg bedeutete Ideologie und Systemunterschiede. Das spielt jetzt keine Rolle.

Glauben Sie, dass die Raketenabwehrsysteme der USA überhaupt in der Lage wären, das ja immer noch sehr große Arsenal russischer Raketen abzufangen?

Nein. Sie sind ganz sicher nicht geeignet, die russische atomare Interkontinentalstreitmacht zu bedrohen oder außer Kraft zu setzen. Aber Bush senior und Gorbatschow haben anerkannt, dass wir unter dem System der gemeinsamen Sicherheit leben. Diese Politik, die den anderen als unentbehrlichen Partner sieht, ist eine Grundeinstellung, der wir Rechnung getragen haben, als wir die Nato-Russland-Akte geschaffen haben. Diese Einstellung fehlt mir heute bei den USA. Ich sehe, dass Präsident Putin dazu bereit ist.

Gibt es ein gemeinsames europäisches Interesse in der Frage?

Selbstverständlich. Der Raketenabwehrschirm ist modernste Technik, die die Amerikaner mit keinem teilen. Er ist geeignet, den Raum, den diese Glocke bildet, abzuschirmen und zu dominieren. Es ist den Amerikanern völlig egal, was die Europäer, die darunter leben, machen. Ob sie selbstbestimmt sein wollen oder nicht. Er ist also im Prinzip ein Instrument gegen die Selbstbestimmung Europas. Das heißt auch potenziell: Solange einige mitmachen – was sie können –, ist es ein Instrument, das Europa spaltet.

Sehen Sie da noch einen Ausweg?

Ja, natürlich. Es wäre möglich, die alten Gedanken wieder aufzugreifen und ein europäisches Raketenabwehrsystem unter Einbeziehung der USA und Russlands zu installieren. Das wäre fabelhaft unter dem Gesichtspunkt der vielleicht einmal in zehn Jahren auftauchenden Gefährdung, und es würde Russland auf das Haus Europa verpflichten.

Sie haben einen sehr großen Teil Ihres politischen Lebens mit dem Bemühen um internationale Abrüstung verbracht. Hat globale atomare Abrüstung aus Ihrer Sicht heute noch eine Chance?

Die hat sie nie gehabt.

Der Atomwaffensperrvertrag, der ja auch das Element der Abrüstung enthält, ist also Makulatur?

Ich bin für den Vertrag gewesen. Aber ich habe mir nie vorstellen können, dass man das Wissen, wie man Atomwaffen herstellt, in eine Schublade zurücksteckt. Auch deshalb, weil jeder Student im 8. Semester heute weiß, wie man die herstellt und sich die atomaren Staaten nie der möglichen atomaren Erpressung durch Verrückte aussetzen werden. Das glaube ich nicht. Ich sehe im Gegenteil, dass eben nicht nur die USA neue Atomwaffen schaffen, sondern dass auch die Franzosen und Briten damit beginnen, selbstverständlich auch die Russen und wahrscheinlich auch die Chinesen. Und die USA haben ja auch Indien dazu verholfen.

Brauchen wir in Europa vielleicht auch die Atomwaffen in Großbritannien und Frankreich, um unabhängiger von den USA zu sein?

Atompolitik bleibt in der alleinigen Entscheidung jedes einzelnen Atomstaates, und zwar deshalb, weil es bei der Frage des Einsatzes um das Schicksal der eigenen Nation geht. Wir Deutschen haben in dieser Dimension nichts zu sagen und nichts zu entscheiden. Aber ich vertrete den Standpunkt: Keine Atomwaffen auf dem Gebiet nichtatomarer Staaten. Das kann jeder nichtatomare Staat bestimmen. Wir können die USA bitten, uns zu entatomisieren.

Hat der Iran ein Recht auf die Bombe?

Ich habe volles Verständnis dafür, dass ein so alter und stolzer Staat in einer Region, in der es im Westen, im Norden, im Osten, im Südosten und im Süden Atomwaffen gibt, auch respektiert werden will. Und selbstverständlich das Recht hat, seine Atomwirtschaft so zu entwickeln, dass das Land nicht abhängig bleibt von abnehmenden Ölvorräten. Ich kann den Iranern nicht nachweisen, dass sie die Atombombe wollen.Ich gehe aber davon aus, dass sie die Sache hinziehen, bis sie eines Tages sagen können: Jetzt sind wir fast so weit. Vielleicht kalkulieren sie dann mit Nordkorea, bei dem sich die USA erst dann zu bilateralen Gesprächen bereit erklärt hatten, als das Land Atomwaffen hatte. In dem Augenblick, in dem ein Land Atomwaffen hat, fühlt es sich sicher.

Fürchten Sie, dass die USA den Iran angreifen, um das zu verhindern?

Ich halte es nicht für unmöglich, obwohl es total verrückt und aussichtslos wäre. Dass wir uns daran nicht beteiligen würden, ist völlig sicher.

Sie haben immer wieder gesagt, der Kapitalismus sei seit dem Ende des Kalten Krieges keinerlei demokratischer Kontrolle mehr unterworfen. Nun sagen Optimisten, die Gefahr des Klimawandels könne endlich sowohl in sicherheitspolitischer wie auch in ökonomischer Hinsicht eine weltweite Zusammenarbeit erzwingen. Halten Sie diese Hoffnung für begründet?

Ich hoffe, dass sie richtig ist. Wir fangen ja alle erst an, zu überlegen, welche Konsequenzen der drohende Klimawandel haben müsste. Aber dass es sich um die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte handelt, kann überhaupt nicht bezweifelt werden.