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Archiv-Artikel

Kinder ohne Chancen

Wieder bekommen es die Bildungsminister amtlich: Schulen benachteiligen und behindern – vor allem Randgruppen

Am schlimmsten sind die Nachteile für jene, die in eine Sonderschule abgeschoben werden

VON CHRISTIAN FÜLLER

Wo Rauch aufsteigt, muss irgendwo Feuer sein. Eine ganze Reihe von Kultusministern weist den Bericht eines gewissen Herrn Muñoz wütend zurück. Der Mann sei nur neun Tage durch die Republik gereist, schimpfte Niedersachsens Kultusminister Busemann (CDU), der könne sich gar kein Urteil über Schulen leisten.

Was bringt die deutschen Schulverantwortlichen so auf? Señor Vernor Muñoz Villalobos war vergangenes Jahr nicht als Tourist in Deutschland, sondern als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Bildung. Als solcher wird Muñoz nun am 21. März beim UN-Menschenrechtsrat einen Bericht über das Land der Dichter und Denker vorlegen, der es in sich hat. Muñoz beschuldigt in dem Papier, das der taz vorliegt (siehe Dokumentation unten), die Schulen, bestimmte Schüler nicht nur zu benachteiligen, sondern gar deren Menschenrecht auf Bildung zu verletzen.

„Mit dem derzeitigen System ist die Gefahr verbunden, dass in Deutschland lebenden Mädchen und Jungen das Recht auf Bildung vorenthalten wird“, schreibt der Inspektor. Besonders betroffen seien „Asylbewerber, Flüchtlinge oder Kinder ohne Ausweispapiere“.

Muñoz hat seinen Bericht den Deutschen vorab zur Kommentierung gegeben. Jetzt muss es schnell gehen, denn schon am 13. März wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Sitzung des neuen Menschenrechtsrats in Genf eröffnen. Offenbar wollen einige Kultusminister nun aber nicht nur eventuelle Missverständnisse korrigieren – sie stört der Tenor des ganzen Textes. Saarlands Bildungsminister Jürgen Schreier (CDU) sagte der taz, Muñoz ziehe nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus seinem Besuch. „Die Einschätzung, das deutsche Bildungssystem verletzte das Recht auf Bildung, ist subjektiv und sie ist falsch“, meint Schreier.

Muñoz selbst nimmt die Vorwürfe gelassen. Dass Länder, die Menschenrechte verletzen, an den Berichten der Vereinten Nationen herumdoktern wollen, ist für ihn Routine. „Ich habe viele Beobachtungen und Kommentare aus Deutschland erhalten“, sagte Muñoz gestern der taz, „sie werden Beachtung finden bei der Fertigstellung des bisher vorläufigen Berichts.“

Dass der Kollege der Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, seine Meinung über die deutsche Schule ändern wird, ist auszuschließen. „Das System scheint die Einstufung [der Schüler, d. Red.] nicht auf Einbeziehung, sondern eher auf Trennung als Bildungsstrategie auszurichten“, urteilt Muñoz über das vielgliedrige Schulsystem – und empfiehlt dringend, das System zu überprüfen. Seine wichtigsten Kritikpunkte werden von Bildungsforschern durchgehend bestätigt.

Zum Beispiel Einwandererkinder, die durch das Schulsystem „strukturell diskriminiert“ werden. Gleiches sagt die Soziologin Heike Diefenbach. Nach ihren Erhebungen beenden 42 Prozent der Migranten die Schule mit Hauptschulabschluss und nur 9 Prozent mit Abi.

Zum Beispiel Flüchtlingskinder, die oft kein formelles Recht haben, Schulen zu besuchen – oder damit rechnen müssen, abgeschoben zu werden, sobald die Behörden von ihren heimlichem Schulbesuchen erfahren.

Am schlimmsten sind aber die Nachteile für jene, die in eine der vielen Sonderschulen abgeschoben werden. Waren es früher vor allem Behinderte, so sind inzwischen alle möglichen Lernbehinderungen und Auffälligkeiten hinzugekommen, die es rechtfertigen, Schüler aus der Regel- in die Sonderschule zu bugsieren. In manchen Bundesländern gibt es zehn verschiedene Arten von Sonderschulen. Die Eltern solcher Kinder kämpfen oft verzweifelt, um wieder aus den Lerngettos herauszukommen. „Mein Kind wird älter, es braucht Kontakte zur Außenwelt“, sagt etwa Magda F. über ihren Sohn, der Downsyndrom hat und in eine Sonderschule gehen muss. „Kinder mit Handicaps entwickeln sich aber zusammen mit nichtbehinderten Kindern besser.“

In einer Untersuchung hat der Hamburger Bildungsforscher Hans Wocken untersucht, wie sich Kinder in Sonderschulen intellektuell entwickeln. Das Ergebnis war: negativ. Die Sonderschule, die oft Förderschule heißt, fördert nicht etwa, sie macht dümmer. „Je länger ein Schüler in der Förderschule zugebracht hat“, schreibt Wocken, „desto schlechter sind sowohl seine Rechtschreibleistungen als auch seine Intelligenztestwerte.“ Daraufhin forderten die versammelten Forscher für Sonderpädagogik im Februar 2006, die Sonderschulen abzuschaffen.

Das verlangt auch Muñoz. Die Kultusminister aber halten ihm vor, er habe keine Ahnung vom deutschen Bildungssystem. Dabei kokelt und raucht die Schule nicht nur – sie brennt lichterloh.