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Archiv-Artikel

„Alle haben recht“

Am Donnerstag beginnen in Berlin die 57. Internationalen Filmfestspiele. Berlinale-Chef Dieter Kosslick über politische Filme und deutsche Quoten

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Kosslick, welches sind die Schwerpunkte der diesjährigen Berlinale?

Dieter Kosslick: Die Identität des Menschen ist durch viele Faktoren gefährdet. Das wussten wir zwar auch schon früher. Aber in diesem Jahr ist das Thema wichtig für die Berlinale, gleich ob es um pubertierende Jugendliche oder um Menschen geht, die durch die Globalisierung aus dem Gleis geworfen werden, etwa durch den Turbokapitalismus in China. Der Mensch kommt mit den Systemen nicht zurecht. Ich fand gut, was Robert Redford kürzlich bei seiner dreiminütigen Eröffnungsrede des Sundance-Film-Festivals gesagt hat.

Was hat er denn gesagt?

Ihm wurde vorgehalten, das Programm sei so düster, trist und schwarz, ganz so, als wäre schon Berlinale in Sundance. Da hat er gesagt: Es ist nichts anderes als die Widerspiegelung der Realität. Wir hatten zum Beispiel „Das Haus der Lerchen“, den Film der Brüder Taviani über den Genozid in Armenien, längst programmiert. Und einige Tage, bevor wir die Pressemitteilung herausgaben, passierte der Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten …

an Hrant Dink.

Manchmal ist, was auf einem Filmfestival gezeigt wird, eben viel realer, als man denkt. Ich begrüße es, dass jetzt auch andere Festivals politischer programmieren, wie das zum Beispiel in Sundance geschehen ist.

Das heißt: Es ist ein wichtiges Merkmal der Berlinale, dass die Auswahl zugunsten politischer Filme getroffen wird?

Nicht ganz. Es ist nicht so, dass man eine bestimmte Auswahl träfe, um politisch zu werden. Was politisch ist, ist ein weiter Begriff. Der eine sagt: Ich bin gegen den Irakkrieg. Der andere zeigt die Anfänge eines Geheimdienstes, der die halbe Welt zu Fall bringt, weil ihm eine Regierung nicht passt. Insgesamt ist es schwieriger, eine Filmauswahl zu machen, weil man bestimmte Kriterien beachten muss. Man muss Stars haben, eine gute Geschichte haben und ästhetische Merkmale beachten. Das unabhängige Kino muss ebenso repräsentiert sein wie auch die Hollywood-Studios.

Letztes Jahr hat mit „Grbavica“ von Jasmila Žbanić ein politischer Film gewonnen, und auch „The Road to Guantánamo“ hat eine Auszeichnung bekommen. Das war in Ihrem Sinne, oder?

Es war bestimmt nicht gegen meinen Willen, aber ich habe es der Jury natürlich nicht aufgezwungen. Seit ich 2002 der Jury unter dem Vorsitz Mira Nairs einen Besuch abstattete, war ich nie mehr bei der Jury und werde da auch nie mehr hingehen. Aber die Entscheidungen des letzten Jahres – sicher, die waren gut für die Berlinale.

Wie würden Sie denn den diesjährigen Wettbewerb beschreiben?

Es ist ein klassischer Wettbewerb. Wir haben großes Kino, mit großen Stars und rotem Teppich, daneben gibt es den Independent Film und das asiatische Kino. Eigentlich dachte ich, das asiatische Kino habe sich in den letzten zwei, drei Jahren etwas erschöpft. Aber das ist nicht so. Es wird weniger auf die Spezialeffekte gesetzt, es gibt weniger Bilder von Wassertropfen mit sechs Schwertern darüber.

Der Leiter der Filmbiennale von Venedig, Marco Müller, ist Sinologe, hat lange in China gelebt und einen privilegierten Zugang zum asiatischen Kino. Ist es schwierig, sich dagegen zu behaupten?

Natürlich ist Marco Müller derjenige, der immer alles zuerst bekommen kann für Venedig. Aber was noch nicht fertig ist, guckt man sich auf der Berlinale an. Deshalb habe ich mit Marco Müller kein Problem. Auch Cannes ist stark an Asien interessiert, und weil es terminlich näher an der Berlinale liegt, haben wir das Hase-und-Igel-Rennen eher mit Cannes.

Im letzten Jahr gab es vier deutsche Filme im Wettbewerb. Damals wurde kritisiert, dass der Rest der Welt vernachlässigt worden sei. Was würden Sie dem entgegenhalten?

Schwierig. Ich hab’ diese Kritik nicht so empfunden. Wie immer, wenn jemand etwas betrachtet: Der eine findet es gut, der andere findet es weniger gut. Da ist es schwierig, von meiner Seite aus zu sagen: Das kann ich nachvollziehen, das kann ich nicht nachvollziehen. Irgendetwas wird immer kritisiert – und sei es, dass ich einen Film wie „300“ …

die blutige Verfilmung eines Comics von Frank Miller …

… am Valentinstag um 22.30 Uhr zeige. Da wird man sagen: Was ist denn los hier? Die Weltpremiere einer der größten Hollywoodproduktionen der letzten zwei Jahre, die lässt der hier versteckt in einer Mittwochnacht krachen?

Es gibt zurzeit eine Diskrepanz in der deutschen Filmproduktion. Bemerkbar machte sich die zuletzt, als der Produzent und Filmakademie-Präsident Günter Rohrbach im „Spiegel“ darüber klagte, dass die Filmkritik große Produktionen wie „Das Parfum“ nicht gebührend schätze, kleine wie „Sehnsucht“ dagegen in den Himmel lobe. Zugleich stehen auf der Nominierungsliste für den Deutschen Filmpreis nur sehr wenige der Filme, die unter dem Label „Berliner Schule“ zusammengefasst werden. Sie leiten das größte deutsche Filmfestival – müssen Sie sich zu dieser Diskrepanz verhalten?

Nein, ich verhalte mich dazu nicht. Und wenn ich gefragt werde, was ich darüber denke, antworte ich: Alle haben recht.

Aber die Berlinale fördert doch gerade die kleineren Produktionen, also die Regisseure, die jemand wie Günter Rohrbach nicht zu schätzen scheint.

Ja, aber das führt zu der grundsätzlichen Frage: Was wird in unserer Gesellschaft als Erfolg betrachtet? Der künstlerische Ansatz? Der Umsatz an der Kinokasse? Wenn beides zusammentrifft? Ich kann mich dazu nicht richtig äußern. Ich versuche, mit der Kritik an der Berlinale zurechtzukommen, und das heißt: gucken, ob wir Sachen besser machen können als im Vorjahr.