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Archiv-Artikel

Die Mär von der guten Bombe

Von Iran und Nordkorea verlangt der Westen, auf Atomwaffen zu verzichten. Zugleich rüsten die westlichen Atommächte ihr nukleares Arsenal auf: eine fatale Doppelstrategie

Der Einsatz von Atomwaffen gehört zum Kalkül: Darauf basiert die Idee der atomaren Abschreckung jaGroßbritannien rüstet auf, Frankreich hat seine Atomwaffendoktrin verschärft. Europa schweigt dazu

„Unsere unabhängige atomare Abschreckung ist die letzte Versicherung“ – mit diesen Worten leitete der britische Premierminister Tony Blair Anfang Dezember vor dem Unterhaus eine Grundsatzrede ein, in der er sich dafür aussprach, das britische Atomarsenal in den kommenden 15 Jahren zu erneuern. Überraschend kam dieses Plädoyer nicht. Seit Anfang des letzten Jahres hatten Experten darüber spekuliert, wann der Premier das Thema auf die Agenda setzen würde. Denn die Zeit drängt, argumentieren zumindest die Modernisierungsbefürworter: spätestens in 25 Jahren müssten die vier mit Atomwaffen bestückten U-Boote, die das Königreich heute unterhält, ausgetauscht werden; ähnliches gilt auch für die Raketen.

Angesichts der langen Entwicklungs- und Bauzeiten neuer Systeme sollte eine Entscheidung daher möglichst rasch erfolgen – auch, weil Blair eine lange innenpolitische Debatte über das Thema vermeiden möchte. Er stellte deshalb sogar in Aussicht, dass das Arsenal auf drei Boote und 160 (statt heute 200) Sprengköpfe reduziert werden könnte. Da selbst die konservative Opposition die Anschaffung befürwortet, scheint die Entscheidung gefallen: Großbritannien wird auch in Zukunft auf eine atomare Abschreckung setzen. Daran ändern weder die offiziell veranschlagten Kosten von mindestens 25 Milliarden Pfund (allein für die U-Boot-Flotte) noch die höchst diffusen Feindbilder etwas.

Aber nicht nur innenpolitisch hat Blair kaum Widerstand zu befürchten. Auch international befindet sich Großbritannien in bester Gesellschaft: Erst im vergangenen Monat deutete Israels Ministerpräsident Ehud Olmert mit seinen unbedachten Äußerungen in einem Interview an, was die Welt ohnehin schon seit Jahren weiß – dass das Land im Besitz von Atomwaffen ist. Dass Olmert dies nun als erster israelischer Regierungschef de facto bestätigt hat, brachte ihm zwar innenpolitisch eine schwere Krise ein – international wurde es hingegen mehrheitlich mit Schulterzucken quittiert.

Die USA verfolgen seit Jahren eine atomare Doppelstrategie: Einerseits wurden die Arsenale, die noch in den 80er-Jahren 20.000 Atomsprengköpfe umfassten, auf heute 10.000 reduziert. Gleichzeitig forscht man dort intensiv an neuen, kleineren „Mini-Nukes“, für die man sich in diversen Strategiepapieren und Militärdoktrinen auch schon ein weites Feld an Einsatzmöglichkeiten ausgedacht hat.

Und Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat erst vor wenigen Monaten in einer Rede erläutert, dass das Land seine Atomwaffen modernisieren und in Zukunft nicht mehr allein zur Abschreckung einsetzen werde, sondern auch, wenn es seine „strategische Versorgung“ in Gefahr sieht. Die Bundesregierung hat diese Zuspitzung der französischen Atomwaffendoktrin übrigens mit scheinbarer Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen: es gebe überhaupt keinen Grund, diese Neuausrichtung zu kritisieren, verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Zwar bleibt unklar, was konkret unter dieses neue Einsatzspektrum fallen soll – will Frankreich seinen uneingeschränkten Zugang zu Öl im Nahen Osten in Zukunft mit Atomwaffen erzwingen? Doch ist es genau diese Uneindeutigkeit und Doppelmoral, die so charakteristisch ist für die Haltung der Atomwaffenstaaten. Um den Besitz ihrer Waffen zu rechtfertigen, versuchen Verteidigungsexperten, sie von den Assoziationen des Kalten Krieges zu befreien. Demnach sind die Atomwaffen, die sich heute in den Arsenalen der westlichen Länder befinden, „klein“, „sauber“, „präzise“, es sind „Mini-Nukes“ und „Bunker Buster“ oder gar „Nichteinsatzwaffen“, wie Chirac erklärt hat. Anders als die Waffen Nordkoreas oder Irans sind „unsere“ Waffen diesem Mythos zufolge die „guten“, die höchstens dann zum Einsatz kommen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind und „unser Überleben“ gefährdet ist. Doch all dies sind Euphemismen: Erstens war und ist der tatsächliche Einsatz von Atomwaffen immer schon – heute ebenso wie während des Kalten Krieges – einkalkuliert. Der Gedanke der atomaren Abschreckung basiert geradezu auf der Bereitschaft, den drohenden Worten letztlich auch Taten folgen zu lassen. Und nicht zuletzt bekennen sich die Atomwaffenstaaten schon lange ganz freimütig dazu, nukleare Waffen auch dann einzusetzen, wenn sie sich durch chemische oder biologische Waffen bedroht fühlen. Das Label der westlichen „Nichteinsatzwaffen“ ist also nichts als eine Schimäre.

Die Folgen für die internationale Ordnung sind gravierend. Nicht nur lässt das erweiterte Einsatzspektrum für Atomwaffen auch ihren wirklichen Einsatz wahrscheinlicher erscheinen als noch zu Zeiten des Kalten Kriegs. Der permanente Versuch, die Charakteristika nuklearer Waffen zu verharmlosen, erweckt auch den Eindruck, dass Atomwaffen nur eine Fortsetzung des konventionellen Krieges mit – akzeptablen – anderen Mitteln darstellen. Das mehr als 50 Jahre geltende Tabu eines Atomwaffeneinsatzes wird damit Schritt für Schritt aufgeweicht, die Wirkung der Waffen verharmlost und ihre militärische Bedeutung aufgewertet. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt ein Verstoß gegen den atomaren Nichtverbreitungsvertrag, der die fünf offiziellen Atomwaffenstaaten USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien dazu verpflichtet, ernsthafte Schritte der Abrüstung zu unternehmen – eine Forderung, der keiner der genannten Staaten nachkommt. Und als wäre das alles nicht schon bedenklich genug, untergräbt das aktuelle britische (und französische) Bekenntnis zur fortgesetzten nuklearen Abschreckung und der hilflose Umgang mit Olmerts Andeutungen die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als Vermittlerin in globalen sicherheitspolitischen Krisen. Anstatt selbst mit einem Bekenntnis zu Rüstungskontrolle und Abrüstung voranzugehen und ein Zeichen zu setzen, schweigt Europa zu den französisch-britischen Plänen – nicht ohne andererseits von Staaten wie Iran oder Nordkorea ein entschiedenes Nein zu Atomwaffen zu fordern.

15 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erleben wir deshalb, dass Atomwaffen, die man fast schon für ein Relikt des Kalten Krieges hätte halten können, auch in Europa wieder ganz weit oben stehen auf den Wunschzetteln vieler Politiker und Militärs. Dabei konnten weder die amerikanischen noch die britischen Atomwaffen die Terroranschläge von London oder New York verhindern – und auch sonst ist nicht klar, auf wen die Waffen eigentlich zielen sollen. Doch anders als während des Kalten Krieges, als in Europa und den USA noch Hunderttausende auf die Straßen gingen, um gegen Atomwaffen zu demonstrieren, stellt heute kaum noch jemand die Frage, ob der Einsatz dieser Waffen jemals moralisch zu rechtfertigen wäre. Oder wovor – und vor allem wie – sie uns im Zeitalter des Terrorismus und der ethnisch, religiös oder ökonomisch motivierten Kriege eigentlich schützen sollen. Die „letzte Versicherung“ könnte sich auf diese Weise schon bald als größte Illusion erweisen.

ULLA JASPER

Fotohinweis:Ulla Jasper, geboren 1977, hat in Bradford und Münster Politik studiert und von 2004 bis 2005 bei der nrw-taz in Bochum gearbeitet. Heute arbeitet sie am Institut für Politikwissenschaft der Universität St. Gallen in der Schweiz.