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Archiv-Artikel

Immer Ärger mit der Identität

Seit gestern ist Rumänien Mitglied der EU. Stellt sich die Frage nach dem kulturellen Selbstverständnis, tritt eine vertrackte Mischung aus Nationalstolz und Selbsthass zu Tage. Die neuen Eliten blenden die kommunistische Vergangenheit aus und propagieren einen radikalen Antimodernismus

Allein gelassen von seiner Geheimpolizei, starb Ceaușescu einen archaischen Tod Das Ereignis erschien wie das Echo aus einer längst untergegangenen Zeit

VON MARIUS BABIAS

Rumänien erlebt derzeit eine mühsame und selbstquälerische Metamorphose. Die Widersprüche der sozio-politischen Realität und der kulturellen Identitätsumbildungsprozesse im Postkommunismus kollidieren mit den EU-Bestrebungen, den Osten fast allumfassend nach westlichen Wertvorstellungen und Profitinteressen zu kolonisieren. Im Inneren übt die Ideologie des Antimodernismus den stärksten Einfluss auf die politische Kultur aus – und zwar durch eine autoritäre Formung des sozialen Lebens, den starken Bezug auf nationale Traditionen, den Glauben an eine authentische nationale Identität und die allgegenwärtige orthodoxe Religion.

Das zutiefst byzantinisch geprägte Rumänien hat sich seit 1989 zwei Identitäten zurechtgelegt, die sich in der Theorie zwar gegenseitig ausschließen, im Alltagsleben und in der Politik aber prächtig vertragen: einerseits eine vormoderne Identität als christlich-orthodoxes Kulturvolk und andererseits eine postkommunistische Identität als aufgeklärte Europäer. Nationalismus und Europäismus bilden so den identitären Kern des rumänischen Way of Life: In inneren Angelegenheiten ist man stramm antieuropäisch-national-orthodox, aber sobald es um die EU-Integration geht, gibt man sich radikal proeuropäisch-liberal-säkular. Dabei wird die kommunistische Vergangenheit konsequent ausgeblendet und eine selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte strikt vermieden.

Die politische und kulturelle Abgeschlossenheit Rumäniens nach dem Zweiten Weltkrieg lenkte die Mehrheit der Intellektuellen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen auf einen nationalen Diskurs, der eine dako-romanische Kontinuität von der Antike bis zu den Kommunisten und insbesondere zu Ceaușescu, dem scheinbar legitimen Erbfolger der rumänischen Nationalgeschichte, konstruieren half. Die heutigen Rumänen, so behaupten es nationalrumänische Forscher bis heute, seien als „latinisches Volk“ aus der Vermischung der Daker mit den römischen Kolonisten unter Kaiser Trajan 106 n. Chr. hervorgegangen – eine Behauptung, für die es allerdings an antiken Quellen und Zeugnissen mangelt, weshalb die Abstammung der Rumänen von den Römern eher einem „völkischen Mythos“ gleichkommt.

Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Ethnogenese der Rumänen und die implizite Fragestellung der kulturell-zivilisatorischen Zugehörigkeit zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen mit Ungarn. Gegenseitige Besitzansprüche auf Siebenbürgen waren ein Grund für die politischen Konflikte. Ein anderer lag viel tiefer und berührte die Identitätsbildung und Identitätsbehauptung als von slawischen Völkern umgebene und bedrohte Kulturnation mit christlich-abendländischem Sendungsbewusstsein – ein wirkungsmächtiger kulturideologischer Topos, der im nationalen Diskurs und der Souveränitätspolitik gegenüber Moskau unter Ceaușescu weiterentwickelt wurde und heute angesichts der Konstruktion einer supranationalen gemeinsamen europäischen „Kultur- und Wertegemeinschaft“ weitertradiert wird.

Die alten technokratischen Eliten, die Ceaușescu stürzten und die Macht übernahmen, hatten es relativ einfach bei der kulturellen Konstruktion einer postkommunistischen Identität als „Europäer“, weil sie auf ein tieferes und wirkungsmächtiges Dispositiv zurückgreifen konnten: den bereits unter Ceaușescu entwickelten nationalen Diskurs, der die Behauptung einer latinischen Herkunft der Rumänen mit einer aggressiven Souveränitäts- und Sicherheitspolitik verband. Die kulturellen Eliten Rumäniens von heute haben daraus eine kuriose antimodernistische Kulturideologie gebastelt. Ausgerechnet die protofaschistischen 1930er-Jahre mit den Protagonisten Noica, Eliade und Cioran gelten nun als die Stunde null der rumänischen Moderne. Der eliminatorische rumänische Antisemitismus hingegen ist nach wie vor ein Tabu.

Marschall Antonescu, der heute wieder als Nationalheld verehrt wird, errichtete 1940/41 zusammen mit der faschistischen Eisernen Garde eine Diktatur und ernannte Rumänien zum Nationallegionären Staat. Das militärfaschistische Regime Antonescu beteiligte sich 1941 an der Seite Deutschlands am Überfall auf die Sowjetunion; Bessarabien und die Bukowina wurden von den Sowjets zurückerobert, dazu wurde Transnistrien, ein Teil der Ukraine, an Rumänien angegliedert. In Transnistrien errichtete Rumänien KZs zur Vernichtung der rumänischen Juden und Roma; insgesamt 400.000 von knapp einer Million rumänischen Juden wurden getötet, so der von Elie Wiesel 2004 initiierte „Bericht der internationalen Kommission zur Erforschung des rumänischen Holocaust“. Der Antisemitismus während der Antonescu-Herrschaft war zur Staatsideologie geworden, was Hitler Bewunderung für das ansonsten als rückständig verachtete Rumänien abnötigte.

Unter Ceaușescus Regentschaft (1965 bis 1989) vollzog sich dann der ideologische Wandel vom marxistischen Internationalismus zum ethnischen Nationalismus mit europäischer Großmachtambition – eine aus heutiger Sicht lächerlich erscheinende Ambition, die im Inneren dennoch große politische Wirkungsmacht entfaltete, indem sie den „völkischen Mythos“ der Rumänen mit einer aggressiven Wirtschaftspolitik verband. Mit westlichen Krediten wurde in dem landwirtschaftlich geprägten Land ein gigantisches Industrialisierungsprogramm verwirklicht; 1966 wurde ein Gesetz zur Förderung von Kinderreichtum und das Verbot auf Abtreibung erlassen – ein Projekt, das als eines der monströsesten Sozialexperimente der neueren Geschichte gilt und Ausdruck der nunmehr Parteiprogramm gewordenen Naturalisierung und Essenzialisierung von Volk, Heimat und Nation war; kranke und behinderte Kinder, wie sie die Revolution 1989 ans Tageslicht förderte, wurden gnadenlos aus der Schicksalsgemeinschaft der Rumänen ausgestoßen und in abgeschirmte, verwahrloste Kinderheime gesteckt, wo sie in einem gezielten Selektionsprozess sterben sollten. Ironischerweise war es genau diese gewissermaßen zum Nationaleigentum erklärte Generation „Neuer Menschen“, von Elena und Nicolae Ceaușescu als „ihre Kinder“ bezeichnet, die das Diktatorenpaar stürzte und am 25. Dezember 1989 hinrichtete. Drei Soldaten bildeten das Exekutionskommando. Elena Ceaușescu rief ihnen zu: „Ihr seid doch meine Kinder, ich habe euch aufgezogen.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dass Ceaușescu kurz vor seiner Exekution die Internationale zu singen begann und ausrief: „Hoch lebe die Rumänische Kommunistische Partei!“ Seine letzten Worte waren: „Die Geschichte wird mich rächen.“ Der 30-minütige Schauprozess vor dem Militärtribunal war kein Shakespeare’sches Drama, sondern erinnerte eher an eine Marx-Brothers-Farce, allerdings mit blutigem Ausgang. Die Anklagepunkte gegen Ceaușescu – „Genozid“ am rumänischen Volk mit mehr als 60.000 Opfern, die mutwillige Zerstörung tausender historischer Gebäude in Rumänien und die Untergrabung der rumänischen Wirtschaft – waren allgemein und vage formuliert. Die Verwendung des Begriffs „Genozid“ deutete an, dass es dem Tribunal nicht um eine lückenlose Aufklärung der Ära Ceaușescu, sondern in erster Linie um die Beseitigung des Dämons ging.

Das Bild der Erschossenen prägte sich tief im Gedächtnis der Rumänen und der Welt ein. Mitten in Europa war der Tribalismus zurückgekehrt. Allein gelassen von seiner Geheimpolizei, seiner Partei und seiner Armee, die bereits seine Nachfolge regelten, starb Ceaușescu einen archaischen Tod. Das Ereignis erschien wie das Echo aus einer längst untergegangenen Zeit, da die Leibeigenen mit Mistgabeln bewaffnet den Despoten erstechen und die Latifundien unter sich aufteilen. Der nationale Diskurs hatte in den Tagen der rumänischen Revolution seinen innersten Kern freigegeben, den verborgenen und tiefsitzenden kulturellen Atavismus, der heutzutage stärker denn je – trotz Suspension der Balkanidentität, trotz EU-Beitritt und trotz neuer Euro-Identität – das transsubstanziierte Euro-Selbst der Rumänen imprägniert.

So wie die westlichen Kulturnationen, die vor gut 200 Jahren die Ideale der Antike neu entdeckten und für sich allein reklamierten, den Balkan aus der Zivilisation ausschlossen und Südosteuropa insgesamt aufgrund der Gleichzeitigkeit von Ethnien, Sprachen und Religionen als Unordnung, Unzulänglichkeit, Befleckung empfanden, erklärte auch Rumänien die Mehrdeutigkeit des eigenen Selbst zur Anomalie. „Diese Zwischenhaftigkeit des Balkans“, hat Maria Todorova angemerkt, „sein Übergangscharakter, könnte ihn schlicht zu etwas unvollkommen Anderem gemacht haben. Differenz und Abweichung wird so in Defizienz umgewertet. Das „Andere“ so fährt Todorova fort, sei in Wahrheit das gehasste und verdrängte Eigene: das im innersten identitären Kern von Mehrdeutigkeiten und Irregularitäten bereinigte und von den Ordnungsprinzipien der Rationalität und der Reinheit zusammengehaltene Euro-Selbst, das Rumänien nun angenommen hat. Europa, wir kommen!