: „Wir sehen zu, wie sich die Arbeiter abwenden“
INTERVIEW SABINE HERRE
taz: Herr Juncker, in wenigen Wochen, am 25. März, feiert die EU ihren 50. Geburtstag. Zugleich jedoch befindet sie sich in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Werden Sie trotzdem feiern?
Jean-Claude Juncker: Ich habe vor zwei Jahren meinen 50. Geburtstag gefeiert, und an diesem Tag habe ich mich nicht mit den Krisen meines Lebens beschäftigt. Wir sollten uns am 25. März dankend an diejenigen erinnern, die nach dem Zweiten Weltkrieg mutiger waren, als wir es heute sind. Denn wir müssen zugeben, dass wir uns in einer Krise befinden, und wir müssen zugeben, dass wir nicht genau wissen, wie wir aus ihr herauskommen. Wir sollten aber auch an unsere Nachkommen denken. In was für einer Welt werden sie leben, wenn wir jetzt scheitern?
Wäre die Krise vermeidbar gewesen?
Diejenigen, die oberflächliche Betrachtungsweisen mögen, sagen gern, dass wir in diese Krise mit dem Nein der Franzosen und Niederländer zum Verfassungsvertrag hineingeraten sind. Dieses Nein hat aber nur die Krise sichtbar gemacht. Unser Problem besteht vielmehr darin, dass Europa eine zweigeteilte Öffentlichkeit hat. 50 Prozent denken, dass wir mehr Europa brauchen. 50 Prozent, dass wir zu viel Europa haben. Zum ersten Mal in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses haben wir es mit einer Bevölkerung zu tun, die nicht nach mehr Europa ruft. Es geht also gar nicht so sehr um Streit zwischen den Regierungen, sondern um die Uneinigkeit in der Bevölkerung.
Doch warum wollen so viele Bürger weniger Europa? Da müssen die Regierungen doch etwas falsch gemacht haben.
Dafür verantwortlich ist vor allem die selbstverliebte Nabelschau der alten EU. Nachdem die Gemeinschaft unglaublich viel für die wirtschaftliche Entwicklung dieser 15 Staaten getan hat, meinen sie nun plötzlich, es könne auch mit weniger EU gehen. Viele Politiker meinen, in Brüssel müsse man für das eigene nationale Interesse kämpfen. Sie sehen das gemeinsame europäische Interesse nicht.
Wo könnte der Ausweg aus der Krise der EU liegen?
Wir brauchen mehr Europa. Unsere Institutionen müssen schneller und demokratischer werden, eine gemeinsame Sicherheits-, Energie-, Antiterror- und Sozialpolitik ist unverzichtbar. Die Tatsache, dass zwei Nationen den Verfassungsvertrag abgelehnt haben, darf uns doch nicht davon abhalten, dass wir einen – wie auch immer gearteten – neuen europäischen Grundlagenvertrag schließen.
Luxemburg und Spanien haben die 18 Staaten, die den Verfassungsvertrag ratifiziert haben, jetzt zu einem Sondergipfel eingeladen …
Ich bin überrascht, dass man über diese Einladung so überrascht ist. Spanien und Luxemburg haben den Verfassungsvertrag in einem Referendum angenommen. Und darum wollen wir die Staaten, die ebenfalls Ja gesagt haben – und das ist immerhin die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer – um einen Tisch versammeln. Es kann nicht sein, dass die zwei Staaten, die den Verfassungsvertrag abgelehnt haben, und diejenigen, die den Ratifizierungsprozess einfach unterbrochen haben, bestimmen, wie es weitergeht. Alle 25 Staats- und Regierungschefs haben den Verfassungsvertrag unterschrieben, doch sieben von ihnen weigern sich seit Monaten, diesen Vertrag ihren Parlamenten oder Völkern zur Abstimmung vorzulegen.
Doch was soll jetzt konkret passieren? Wollen Sie die Franzosen etwa noch einmal über den gleichen Text abstimmen lassen?
Ich hatte erwartet, dass die Regierungen der beiden Neinsager dem Rest erklären, aus welchen Gründen der Verfassungsvertrag abgelehnt wurde. Denn nur dann könnte man auch über Änderungen dieses Vertrags diskutieren. Man sollte außerdem daran erinnern, dass beim Nein der Dänen zum Euro die Herren Kohl und Mitterrand eine halbe Stunde nach Bekanntgabe des Ergebnisses erklärten, dass die anderen Staaten trotzdem mit der Gemeinschaftswährung weitermachen. Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen Dänen und Franzosen, sind Letztere mehr wert, nur weil sie zahlreicher sind?
Ein Vorschlag zur Überwindung der Verfassungskrise lautet, die Verfassung kürzer und damit verständlicher zu machen. Also weg mit dem umfangreichen dritten Teil mit all seinen Detailbestimmungen?
Diejenigen, die sagen, die Verfassung sei wegen des dritten Teils bei den Referenden gescheitert, haben diesen ganz einfach nicht gelesen. Im dritten Teil befinden sich die juristischen Grundlagen für mehr Außen-, Energie- und Sozialpolitik. Ebenfalls nicht verzichten kann man auf die Grundrechtecharta. Ich lese mit Befremden die negativen französischen und niederländischen Kommentare hierzu. Ihnen möchte ich Folgendes sagen: Wir Europäer präsentieren uns gern als Vorbild für den Rest der Welt. Und die Welt ruft auch nach einem europäischen Vorbild. Jetzt geht es darum, die Hauptmerkmale dieses europäischen Modells in einer Grundrechtecharta zusammenzufassen. Darauf dürfen wir nicht verzichten.
Was erwarten Sie von Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin?
Ich bin dagegen, die deutsche Präsidentschaft mit Erwartungen zu überfrachten. Der Versuch, die Bundesregierung in Haftpflicht für das Zustandekommen der Verfassung zu nehmen, ist anmaßend, das ergibt sich schon aus der Terminlage. Die Niederländer haben keine Regierung, die Österreicher und die Tschechen ebenfalls nicht. In Frankreich und anderen Ländern wird gewählt. Frau Merkels Leistung wird darin bestehen, jedem Mitgliedstaat intensiv zuzuhören, um so herauszufinden, wo für diese Staaten das Wesentliche, also die Substanz des Verfassungsvertrags liegt.
Kann die Verfassung zu den Europawahlen 2009 fertig sein?
Ich würde nicht von Verfassung, sondern von Grundlagenvertrag sprechen. Der Begriff Verfassung hat stets zu große Erwartungen geweckt. Es wäre wünschenswert, dass der neue Vertrag bis zu den Wahlen 2009 fertig ist, doch ich halte das nicht für realistisch. Wir brauchen wahrscheinlich eine neue Regierungskonferenz und möglicherweise auch eine erneute Ratifizierung.
Herr Juncker, Sie sind der dienstälteste Regierungschef in der EU, Sie haben unzählige Gipfel erlebt und vermutlich auch durchlitten. Geht Ihnen das Geschachere auf europäischer Ebene inzwischen nicht gehörig auf die Nerven?
Ich hatte 1984 den Vorsitz im Haushaltsausschuss, und dort leitete ich einmal eine Sitzung, die von Montagmorgen ununterbrochen bis Donnerstagnacht dauerte. Als ich am Freitag nach Hause kam, war mein Vater dabei, den Garten umzugraben, und ich erzählte ihm von den viertägigen ergebnislosen Beratungen. Er aber meinte nur: Das ist besser, als vier Tage im Kugelhagel in Russland zu stehen.
Dennoch haben Sie es vor zwei Jahren abgelehnt, das Amt des Kommissionspräsidenten zu übernehmen – obwohl viele Regierungschefs Sie fast auf den Knien darum baten. Sie aber zogen es vor, Premierminister von Luxemburg zu bleiben. Warum?
Um als Kommissionspräsident erfolgreich sein zu können, muss es einen Grundkonsens der Regierungschefs über die Politik der kommenden Jahre geben. Doch für mein Programm für eine sozialere Union hätte ich nie die notwendige Zustimmung bekommen.
Wie hätte dieses Programm denn ausgesehen?
Wir sehen untätig zu, wie sich die Arbeitnehmer von der Europäischen Union abwenden. Daher brauchen wir nicht nur eine Währungs-, sondern auch eine Sozialunion. Wir müssen uns auf Mindeststandards im Arbeitsrecht verständigen. Auf eine Grenze, die kein Staat nach unten durchbrechen darf.
Können Sie das etwas konkreter machen?
Wir brauchen zum Beispiel Mindestregeln beim Kündigungsschutz. Wir müssen festlegen, unter welchen Umständen befristete Arbeitsverträge entstehen können und unter welchen nicht. Mich ärgert zunehmend, dass man denkt, der typische Arbeitsvertrag wäre ein befristeter. Wenn mein Vater nur einen befristeten Arbeitsvertrag gehabt hätte, dann hätte ich nicht auf die Universität gehen können. Das hire and fire-System schränkt das Recht der Arbeitnehmer auf Grundsicherheit massiv ein.
Und sonst?
Wir brauchen Mindestlöhne und ein Grundeinkommen für alle sowie auch eine Harmonisierung in vielen steuerlichen Bereichen. Kaum einer weiß, dass wir diese jetzt schon bei der Kapitalertrags- oder bei der Mehrwertsteuer haben. Doch wir müssen uns auch bei den Unternehmenssteuern auf Mindestregeln einigen. Das wird lange dauern, aber man muss das machen.
Doch viele nationale Politiker haben kein Interesse an europäischen Regelungen im Sozialbereich …
Auf der einen Seite stehen die Mitgliedstaaten, die keine Sozialpolitik der EU wollen, weil sie hohe Standards fürchten. Es gibt aber auf der anderen Seite auch die Skandinavier, die hohe Standards haben und eine Absenkung auf ein niedrigeres Niveau fürchten.
Als ein Grund für die Krise der EU wird genannt, dass die Union zu unsozial und die Verfassung zu neoliberal sei. Ist da was dran?
Ich kann überhaupt nicht erkennen, wo der Verfassungsvertrag neoliberalen Kräften Auftrieb gibt. Denn dann hätte ich dem Vertrag nicht zugestimmt. Vielmehr schreiben wir fest, dass die EU eine sozial ausgewogene Politik in allen Bereichen zu verfolgen hat. Wer aus Prinzip gegen soziale Marktwirtschaft ist, wer also für dirigierte Wirtschaft eintritt, der muss diesen Vertrag natürlich ablehnen.
Mit anderen Worten: Wenn die Verfassung in Kraft tritt, wären Sie bereit, das Amt des EU-Kommissionspräsidenten zu übernehmen?
Auch wenn es für deutsche Ohren seltsam klingen mag: Als Premier Luxemburgs bin ich Tag und Nacht ausgelastet.