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Archiv-Artikel

„Das sind nur Steuergeschenke? Unfug!“

INTERVIEW ULRIKE HERRMANN UND STEFAN REINECKE

taz: Herr Poß, wie viel Steuern zahlen Sie?

Joachim Poß: Da müsste ich meine Frau anrufen. Ich mache die Steuererklärung bewusst nicht selbst, sondern überlasse das einem Steuerberater. Ich unterschreibe fast blind.

Und Sie, Herr Giegold?

Sven Giegold: Ich lebe am Existenzminimum, damit ich Zeit für meinen politischen Aktivismus habe. Ich zahle also keine Einkommensteuer, sondern nur indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer.

Die wird ab Januar um 3 Prozent steigen. Gleichzeitig sollen ab 2008 die Gewinnsteuern für Kapitalgesellschaften sinken – also für Aktiengesellschaften und GmbHs. Ist das sozialdemokratische Politik?

Poß: Aus sozialdemokratischer Sicht ist entscheidend, dass etwa 65 Milliarden Euro an Gewinnen aus Deutschland ins Ausland verschoben werden, weil dort niedrigere Steuersätze gelten. Das muss verändert werden. Das ist der Kern der Unternehmensteuerreform.

Giegold: Und deswegen schenken Sie den Firmen 6 bis 11 Milliarden Euro?

Poß: Das sind lächerliche Zahlen. Es sind maximal 5 Milliarden Euro. Und auch nur am Anfang. Jede Reform verursacht erst einmal Ausfälle. Wer etwas anderes erzählt, hat keine Ahnung oder streut den Leuten Sand in die Augen. Auf Dauer geht es nicht um weniger Steuern, sondern um mehr Steuern. Wir haben derzeit 38 Prozent Unternehmensteuer – aber nur auf dem Papier, nicht faktisch. Besser ist: Wir haben weniger auf dem Papier, aber dafür faktisch mehr. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Attac das für einen richtigen Ansatz hält.

Giegold: Das sind Luftbuchungen. Diese Steuerreform ist unsinnig. Warum soll ein Unternehmen seine Gewinne in Deutschland versteuern, nur weil der Satz hier auf knapp 30 Prozent sinkt – wenn es im Ausland weiterhin die Alternative hat, dort 5 Prozent zu zahlen? Das wird nicht funktionieren. Der Effekt wird sein wie schon unter Rot-Grün: Sie senken die Steuer für Unternehmen, doch die Steuerflucht ins Ausland bleibt.

Poß: Das ist die Meinung Giegold, aber es gibt viele Experten und Praktiker in den Finanzverwaltungen der Länder, die unsere Steuerreform unterstützen.

Und was sagen Ihre Wähler in Gelsenkirchen?

Poß: Die sagen meistens das Gleiche wie Herr Giegold. Das ist überhaupt nicht zu leugnen. Aber wenn ich mit den Leuten länger diskutieren kann, dann verstehen sie, dass man die nationalen Möglichkeiten nutzen muss, um zu verhindern, dass Gewinne ins Ausland verschoben werden. Und genau das tun wir.

Giegold: Ich erlebe auf Veranstaltungen etwas ganz anderes: Die Leute fühlen sich verarscht. Wir leben in einer Republik des tiefsten Zynismus. Wir haben steigende Unternehmensgewinne und stagnierende Einkommen der Arbeitnehmer. Wir haben einerseits Hartz IV und andererseits explodierende Spitzengehälter für Manager. Und diese Situation wird durch sogenannte sozialdemokratische Politik noch verschärft. Sie machen Umverteilungspolitik: Sie erhöhen die Mehrwertsteuer für die unten und verteilen oben Steuergeschenke.

Poß: Das ist dummes Zeug. Wir machen keine Steuergeschenke. Die Unternehmensteuerreform, die wir jetzt beschlossen haben, ist sehr viel besser als alles, was wir bisher hatten. Bis jetzt konnten große Unternehmen ihre Gewinne in Deutschland mit Tricks kleinrechnen. Künftig müssen sie auch Zinsen und die Finanzierungsanteile von Mieten, Leasingraten und Lizenzgebühren versteuern – damit werden die Gestaltungsmöglichkeiten, Gewinne ins Ausland zu verschieben, stark eingeschränkt. Das haben wir – zu meiner Überraschung – gegen den Widerstand der CDU durchgesetzt.

Giegold: Aber Sie rechnen nur geringe Teile der Zinsen an, viel weniger, als Sie ursprünglich wollten. Damit werden Sie Gewinnverlagerungen nicht verhindern, und deshalb wird die Unternehmensteuerreform wieder so teuer werden. Und: Diese Unternehmensteuerreform wird in der EU einen Steuerwettlauf nach unten auslösen. Wenn Deutschland, das größte EU-Land, seinen Steuersatz für Kapitalgesellschaften um 10 Prozent senkt, reagieren die Nachbarländer und reduzieren ebenfalls ihre Steuersätze.

Poß: Herr Giegold, mich stört Ihre apodiktische Aussage. Ich war drei Tage bei der OECD in Paris und habe dort mit Steuerexperten gesprochen. Ich kann nicht erkennen, dass Deutschland wieder ein Steuersenkungswettbewerb droht, wie wir ihn in der Vergangenheit hatten.

Giegold: Herr Poß, ich bin im Netzwerk Steuergerechtigkeit. Ich telefoniere jeden Monat mit meinen Kollegen aus den anderen europäischen Ländern – ich garantiere Ihnen, dass der Wettlauf weitergeht. Die Spitzensteuersätze und die Unternehmensteuern sind im EU-Durchschnitt jedes Jahr gesunken: Von 2005 auf 2006 haben wir noch einen Prozentpunkt verloren. Wenn es uns nicht mehr gelingt, Kapitaleinkünfte ordentlich zu besteuern, dann gehen die europäischen Sozialstaaten kaputt.

Und wie lässt sich das Steuerdumping in der EU stoppen?

Giegold: Mit politischem Druck. Am 1. Januar übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr. Der Schwerpunkt müsste sein, den Steuerwettlauf zu beenden. Sonst ist die EU bald eine Freihandelszone, aber keine politische Union.

Poß: Und was machen Sie, wenn die anderen Länder nicht wollen? Die deutsche Regierung hat schon immer darauf gedrängt, europaweit Steuerschlupflöcher zu stopfen. Aber wir stoßen da an unsere Grenzen. In der EU herrscht, gegen unseren Willen, in der Steuerpolitik nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip. Wir brauchen eine Steuerharmonisierung, das ist vollkommen richtig. Aber sie ist schwierig durchzusetzen, vor allem mit den neuen Mitgliedsstaaten. Außerdem bremst Großbritannien, weil die Interessen der größten Geldwaschanlage der Welt verteidigt werden – der City of London. Aber wir können uns deswegen ja nicht aus der EU verabschieden, von der wir wirtschaftlich profitieren.

Giegold: Solange deutsche Minister weiter immer zum Ecofin-Rat der EU-Finanzminister gehen und hoffen, dass Irland, Belgien oder Luxemburg freiwillig ihre Steueroasen schließen, wird sich nichts ändern. Denn schließlich leben diese Ländern gut davon. Da kann man bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Man muss endlich hart verhandeln.

Poß: Das ist in den letzten Jahren versucht worden. Als ich zum Beispiel jetzt im Baltikum war, habe ich dort natürlich das Thema Steuerwettlauf immer wieder angesprochen.

Giegold: Ich unterstelle Ihnen keine Böswilligkeit. Aber Deutschland muss diesen Konflikt in der EU auch endlich austragen. Sonst gibt man den Sozialstaat auf. Wenn andere Staaten ihre Interessen bedroht sehen, dann beklagen die sich nicht folgenlos beim Ecofin-Rat, sondern sie stellen sich auf die Hinterbeine und weigern sich, den EU-Haushalt zu beschließen. Das machen die Franzosen stets, wenn es um ihre Bauern geht. Auch Deutschland weiß, wie man erfolgreich verhandelt. Wenn es gilt, Vorteile für unsere Automobilindustrie zu bekommen, dann ist es plötzlich möglich, Richtlinien aufzuhalten. Aber wenn Reiche mehr Steuern zahlen sollen, dann ist die Regierung angeblich machtlos. Eine himmelschreiende Diskrepanz.

Poß: Ihre Kritik an der EU ist teilweise richtig. In der EU-Kommission herrscht manchmal eine Denkrichtung, die mir auch nicht passt. Aber wir müssen auch die Mehrheitsverhältnisse sehen.

Immerhin scheinen Sie sich darin einig zu sein, dass letztlich alles in der EU entschieden wird.

Giegold: Im Großen und Ganzen, ja. Aber so machtlos ist der Deutsche Bundestag nicht! Er könnte ein Gesetz beschließen, dass jedes Unternehmen mit Sitz in Deutschland angeben muss, wie viel Steuern es hier zahlt und wie viel im Ausland. Diese Information könnten Gewerkschaften, Attac oder die Kirchen nutzen, um diese Steuerhinterziehung zu skandalisieren.

Poß: In einem Land, wo es noch nicht einmal gelungen ist, das sogenannte Bankgeheimnis aufzuheben, ist es illusorisch, dass wir das Steuergeheimnis anpacken könnten. Das würden CDU und FDP nicht mittragen.

Giegold: Die brauchen Sie gar nicht. Es wird nur eine Mehrheit im Bundestag benötigt, weil es eine Berichtspflicht der Unternehmen wäre. Die Steuerverwaltung der Länder wäre nicht betroffen – deswegen müsste der Bundesrat auch gar nicht mitentscheiden.

Poß: Ich bin für jeden Vorschlag offen. Schicken Sie mir doch ein ausgearbeitetes Papier.

Also sehen Sie sich gegenseitig nicht nur als Gegner, sondern auch als Bündnispartner?

Giegold: Ich halte nichts von pauschaler Politikerschelte. Ich halte sie sogar für gefährlich für die Demokratie. Aber unser Resümee der Steuerpolitik von Herrn Poß fällt katastrophal aus.

Poß: Ich finde es gut, das Attac sich mit diesen Themen auseinandersetzt. Aber ich würde mir wünschen, dass Attac unsere Papiere genauer liest und sich stärker auf die Realität einlässt.