: Historisiert die NS-Historiker!
Der Zeithistoriker Norbert Frei lädt in Jena zum Familientreffen der deutschen NS-Forscher, um über Martin Broszat und deutsch-jüdische Projektionen zu debattieren. Der erwartete Generationenkrach bleibt aus. Und eine Frage offen: Wie befangen waren die Historiker der Flakhelfer-Generation?
von STEFAN REINECKE
Was die NS-Zeit angeht, scheint die bundesrepublikanische Debatten-Öffentlichkeit 2006 im Stadium der Hysterie angekommen zu sein. Man will unbedingt noch mal das Stück von Schweigen und Schuld aufgeführt sehen – wahrscheinlich, weil die letzten Akteure derzeit verschwinden. Deshalb war das Echo auf Grass’ Bekenntnis, als 17-Jähriger ein paar Monate bei einer Waffen-SS-Einheit gewesen zu sein, so moraltriefend. Mit der Affäre um Habermas’ Zettel und HJ-Rolle hat sich die Schuld-Inszenierung endgültig in eine Farce verwandelt. Wo keine Schuld mehr ist, wird sie, als Klatsch, herbeifantasiert. Die Nazi-Eliten lebten jahrzehntelang unbehelligt in der florierenden Bundesrepublik – doch jetzt, 60 Jahre später, kennt man mit damals Pubertierenden kein Pardon.
Allerdings hat die Debatte, jenseits vom moralischen Hyperventilieren, einen ernsten Kern, nämlich die Frage, welches Gepäck die Flakhelfer-Generation aus der NS-Zeit mitbrachte. Wie stark war die Generation, die die alte Bundesrepublik prägte, in Abspaltungen und Einkapselungen befangen?
Eine Art Passepartout für die Debatte hat vor drei Jahren der junge Historiker Nicolas Berg entworfen, der in einer umfangreichen Generalabrechnung die deutsche Historikerzunft und vor allem Martin Broszat kritisierte. Broszat, der 1989 starb, war ein produktiver Historiker der NS-Zeit, ein unruhiger Intellektueller – und, wie Berg recherchierte, mit 18 Jahren NSDAP-Mitglied gewesen. Bei der Frage, ob Broszat dies wusste oder 1944 einfach aufgenommen wurde, gilt: zwei Historiker, drei Meinungen.
Aber der Streit dreht sich um viel mehr als eine vielleicht verschwiegene vergilbte Karte. Im Raum steht, so Volkhard Knigge bei einem von Norbert Frei veranstalteten Symposion über Martin Broszat in Jena, ein „schauerlicher Verdacht“ gegen die deutsche Historikerzunft. Sie habe nicht nur die eigene Beteiligung an der NS-Zeit verdrängt, sondern auch, bewusst oder unbewusst, die Entschuldigung des NS-Systems betrieben. Sie habe sich als kühler, objektiver Sachwalter inszeniert und damit gegen alles imprägniert, was nicht ins eigene Bild passte.
Der Vorwurf hat es in sich. Er zielt auf die Zerstörung des Selbstbildes von Historikern wie Hans Mommsen und Martin Broszat, die sich als Aufklärer begriffen und nun als geheime Verdränger ertappt werden. Dass gerade Historiker, die für das Wissen über die NS-Zeit zuständig zeichnen, zutiefst befangen gewesen sein sollen, ist mehr als ein Fachdisput. Dieser Streit ist auch kein aufgeblasener Metadiskurs, mit dem die NS-Forschung ihren offenkundigen Bedeutungsverlust wettzumachen sucht. Denn es geht um die Glaubwürdigkeit deutscher NS-Forschung.
Ein Schlüsselwort lautet dabei „unausgesprochene Entlastungssehnsucht“. So habe Broszats und Mommsens Versuch, methodisch Strukturen und Funktionsweisen des NS-Systems zu untersuchen, dazu geführt, die Täter im Abstrakt-Analytischen verschwinden zu lassen. In der Tat waren Motive und Täter in diesem funktionalistischen Geschichtsbild unterbelichtet. Im Rückblick ist deutlich: Die Historiker der Flakhelfer-Generation haben die Aufklärung über NS-Zeit vorangetrieben – doch wo es um die Enttarnung von Exnazis ging, hielt man sich an den bundesdeutschen Konsens: lieber nicht daran rühren.
Wissenschaftsgeschichtlich gesehen ist die Sache allerdings doppelbödig. Denn der Blick, den Broszat & Co seit den 60er-Jahren auf die Strukturen des NS-Regimes warfen, war damals überaus erkenntnisfördernd. Er wirkte als eine Art Medizin, um das schlichte Bild vom Dämon Hitler, der das Volk verführt hatte, zu korrigieren. Zum anderen baute die Täterforschung, die etwa Ulrich Herbert in den 80er-Jahren entwickelte, auf dem Funktionalismus auf.
Dan Diner urteilte, dass die Funktionalisten die legitime deutsche Frage untersuchten – nämlich „Wie konnte es passieren?“. Die jüdischen Fragen aber „Warum habt ihr das getan? Und warum wir?“ hätten sie damit ausgeklammert. Dieser Befund leuchtet ein. Weniger plausibel ist, was aus Diners Diagnose folgt. Hätten sich deutsche Historiker damals mit der jüdischen Frage statt mit der eigenen befassen sollen? Hätten sie nicht gerade dann den Vorwurf verdient, aus Entlastungssehnsucht vor der falschen Haustür zu kehren? War nicht gerade die Identifikation mit der Opferperspektive eine billige Ausflucht?
So ist „Entlastung“, bezogen auf die Arbeiten deutscher Historiker, eine Art gefährliches Zauberwort. Stets scheint es viel zu erklären und ist doch gerade deshalb eine Falle. Es funktioniert als Universalschlüssel, der irgendwie immer passt.
Allerdings existiert bei Broszat ein blinder Fleck, der nicht wegzuretuschieren ist und seine Verteidiger ratlos macht: sein drastisches Verhalten gegenüber jüdischen Historikern. In einem berühmten Briefwechsel 1987 hatte Ex-NSDAP-Mitglied Broszat dem Holocaust-Überlebenden Saul Friedländer zu verstehen gegeben, er selbst verkörpere die rationale deutsche Zeitgeschichtsforschung, während Friedländer eine Art mythische jüdische Erinnerung im Sinn habe. Dies war eine moralisch abgründige Verwechslung. Broszat projizierte die eigenen Befangenheit auf sein jüdisches Gegenüber.
Broszats Sicht, so Norbert Frei in Jena, ist „unhaltbar“, doch eine Erklärung ist das nicht. Broszats Kälte gegenüber jüdischen Historikern wie Josef Wulf, der sich 1974, verzweifelt über die hartnäckige deutsche Verdrängung, selbst tötete, war kein Fehler, über den man achselzuckend hinwegsehen kann. Sie war gewiss eine Folge des „selbst auferlegten Empathieverbots“, so Sybille Steinbacher in Jena, das deutsche Zeitgeschichtler in den 50er- und 60er-Jahren nötig hatten, um als Wissenschaftler ernst genommen zu werden. Und es war noch mehr – nämlich die Nachtseite jenes „Pathos der Nüchternheit“, das Broszat für sich beanspruchte und das für die Generation der Flakhelfer typisch war. 1945 war ihr Glaube an Hitler in Rauch aufgegangen. Die Konsequenz, die viele daraus zogen, lautete, fortan nie mehr zu glauben und nur noch zu wissen. Dieses wissenschaftliche Ethos war ein Kraftzentrum der deutschen Zeithistoriker – und zugleich eine Waffe, mit der man sich im Notfall lästige jüdische Historiker und die eigene Biografie vom Leib hielt.
Saul Friedländer ließ in Jena den Briefwechsel nochmals klug Revue passieren. Seine Kritik an Broszats Abspaltungen war hart, der Ton versöhnlich. Überhaupt mühte man sich um Sachlichkeit. Der Showdown zwischen Nicolas Berg, der die Rolle als jugendlicher Rebell hätte spielen können, und Hans Mommsen, als grollender, beleidigter Donnergott, fiel aus. Das war kein Schaden. Die ödipale Revolte und der symbolische Vatermord waren vielleicht schon zu lange der Treibstoff, der die Erinnerungskultur auf Touren hielt.
Broszat hat 1985 für eine Historisierung der NS-Zeit plädiert. Das war zu früh, doch heute ist genau dies der Fall. Die NS-Zeit, die noch in den 90ern näher zu rücken schien, ist Geschichte geworden, Teil des deutschen Selbstbildes. Die Historisierung der NS-Zeit ist eine Tatsache. Die Historisierung der NS-Forschung aber scheint erst begonnen zu haben.