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Archiv-Artikel

BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE Einwirkzeit: 45 Minuten

In Britts Familie gibt es Läuse – sind diese Leute jetzt Unterschicht? Der Läusetrend weist in eine ganz andere Richtung

Ich ahnte schon, dass etwas nicht stimmte, als mir Britt die Tür öffnete. Niemals zuvor hatte mich meine Freundin mit einem Handtuch um den Kopf begrüßt, und das auch noch an einem Freitagabend. In ihrem Gesichtsausdruck las ich das Bemühen, irgendwie Haltung zu bewahren. „Goldgeist“, sagte sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkte, „stinkt ziemlich. Einwirkzeit: 45 Minuten.“

In der Küche sitzen Thomas und Tochter Anna, auch sie haben Handtücher malerisch um den Kopf geschlungen, wie die Tuareg. Doch Annas verheulter Gesichtsausdruck lässt auf nichts Gutes schließen. Eine Stehlampe ist in die Küche geschleppt worden und beleuchtet auf dem Tisch ein helles Blatt Papier. Daneben liegt eine Lupe.

„Läuse“, sagt Britt, „bei Anna haben wir Nissen im Haar gefunden. Das Wochenende ist gelaufen.“ Ich wusste noch von Chrissy, wie das mit den Läusen funktioniert: Die Tiere krabbeln von Kopf zu Kopf oder via Garderobe von Jackenkragen zu Jackenkragen und legen dann im Haar ihre gefürchteten festklebenden Eier, Nissen genannt. Bringt ein Kind die Tierchen nach Hause, muss sich die ganze Familie behandeln lassen. Mit Goldgeist-Tinktur. Hat man die Haare damit eingerieben, fallen die Insekten später trunken und halbtot heraus. Die abgetöteten Nisseneier kämmt man mit Hilfe eines feinzinkigen Kammes aus dem Haar. Trotzdem muss man die Strähnen noch einzeln verlesen. Wie in einer Affenfamilie.

„Anna will es in der Schule nicht sagen“, seufzt Britt, „dabei hat sie es ja von irgendjemand dort bekommen. Bei uns gab’s noch nie Läuse. Woher denn auch.“ Thomas hat damit begonnen, an der Garderobe die Mäntel abzunehmen und in große, grüne Plastiksäcke zu stopfen, die er mit Clips verschließt. Mir war zuvor schon aufgefallen, dass im Flur zwei Säcke liegen, in denen die Umrisse von Baseballkappen und Strickmützen unscharf zu erkennen sind.

„Du kannst nicht alles bei 60 Grad waschen‘ “, erklärt Thomas auf meine Frage, „der Rest kommt in Plastiksäcke. Vier Wochen Läuse aushungern.“ Annas Stofftiere hat Thomas zuvor in die Tiefkühltruhe gestopft. Dort sterben Läuse binnen zwei Tagen den Erfrierungstod. Die Stofftiere übrigens überleben. Die Sache mit den Kuscheltieren in der Tiefkühltruhe erklärt, warum auf dem Herd gerade mehrere Pizzen antauen. „Mozzarella, Salami, Funghi, wir mussten Platz in der Kühltruhe schaffen. Heute Abend machen wir eine Pizzaparty“, sagt Britt matt.

Läuse totwaschen, aushungern oder tiefgefrieren – ich will der Sache etwas Lustiges abgewinnen. „Das wird in der Schule noch eine muntere Läusejagd geben“, meine ich, „die Paranoia kann ich mir vorstellen.“ Es ist leider das falsche Stichwort. „Warum soll gerade ich es erzählen,“ schluchzt die 13-jährige Anna, „ist voll Assi-mäßig. Ich hab es doch von jemand anderem. Die anderen haben es auch nicht gesagt.“ Ich weiß, dass in Annas Klasse bereits zarte Bande geknüpft werden zwischen Mädchen und Jungs. Und mir wäre es früher auch unangenehm gewesen, dem Jungen meiner Träume gestehen zu müssen, dass sich Läuse meinen Kopf als Nistplatz ausgesucht haben.

„Die Unterschichtdebatte“, sagt meine Apothekerin am nächsten Morgen, „die Angst vor der Stigmatisierung. Das erleichtert die Übertragungswege.“ Ich habe mich vorsichtshalber bei ihr nach den Tierchen erkundet. Und nach den aktuellen Läusetrends. „Es ist immer das Gleiche“, schildert die Frau, „die Eltern sagen der Schule nicht, wenn ihr Kind Läuse hat. Die behandeln heimlich. Denen ist das peinlich.“ Doch dadurch, so erfahre ich, verstreiche wertvolle Zeit, weil abgewanderte Läuse es sich unterdessen auf den unbehandelten Köpfen der SchulkameradInnen gemütlich machten und dort weiternisten.

„Dabei hat das mit Armut nichts zu tun“, sagt die Apothekerin, „die Läuse kommen immer nach den Sommerferien. Ferienlager. Fernreisen. Kann sich doch kein Hartz-IV-Empfänger leisten.“

Die Mittelschicht und ihre Scham. Das ist das wahre Übel. Ich muss es Britt erzählen.

Fotohinweis: BARBARA DRIBBUSCH GERÜCHTE Fragen zur Hygiene? kolumne@taz.de Morgen: Martin Unfried hat tabulosen ÖKOSEX