: „Der Westen hört den Afghanen nicht zu“
Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan aufzuarbeiten, ist schwierig. Denn viele Täter sitzen in politischen Ämtern – mit Duldung der internationalen Gemeinschaft, so die afghanische Menschenrechtskommissarin Hangama Anwari
taz: Fünf Jahre sind seit dem Sturz der Taliban vergangen. Wo sehen Sie in puncto Menschenrechte die größten Fortschritte seitdem?
Hangama Anwari: Wir haben eine neue Gesetzgebung, mehr Kinder gehen zur Schule, Frauen sind in der Öffentlichkeit präsent; das wäre zur Zeit der Taliban undenkbar gewesen. Allerdings sehen wir die verschlechterte Sicherheitslage mit großer Sorge.
Beeinflusst die veränderte Sicherheitslage Ihre Arbeit?
Wir konnten noch 2002 sehr frei in alle Landesteile fahren. Heute komme ich aus Kabul kaum noch heraus. Für NGO-Vertreter, die zum Beispiel im Gesundheits- oder im Bildungsbereich arbeiten, ist es sehr gefährlich geworden, in entlegene Regionen zu fahren. Neben der Sicherheit besorgt uns die Rechtsunsicherheit. Es hat viele Bemühungen zur Reform der Justiz gegeben, Italien war dabei federführend. Aber das Justizsystem ist immer noch ein sehr fragiles Gebilde.
Warum sind die Reformbestrebungen so erfolglos?
Die Politik muss die Rechtssicherheit ernster nehmen, hat aber vor allem auf die Sicherheitslage geschaut.Aber wie soll es sicher werden, wenn es keine Gerechtigkeit gibt? Wir hatten zu lange führende Kräfte im Justizsektor, die keine Ahnung hatten, was Menschenrechte sind. Wir mussten die erst mal aufklären, wie die Gesetzeslage ist und welche internationalen Verpflichtungen Afghanistan hat. Heute haben wir besser ausgebildete Richter. Aber es fehlt auch an der Ausstattung. Wir haben schlicht keine Gerichtsgebäude an vielen Orten und zu wenig gut ausgebildetes Personal in den Provinzen.
Gerechtigkeit ist auch eine Frage des politischen Willens. Wie soll den Opfern vergangener Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ihre Peiniger in Kabul im Parlament sitzen?
Nicht nur unsere Regierung, auch die internationale Gemeinschaft wollte sich anfangs damit nicht befassen. Mit der Zementierung von Straflosigkeit haben die Warlords noch mehr Macht bekommen. Das hat sich bei unseren Wahlgesetzen gezeigt. Obwohl die Zivilgesellschaft forderte, frühere Kriegsverbrecher nicht zur Wahl zuzulassen, waren sie mit von der Partie. Sie verfügen über Geld und Macht und werden in ihren Regionen gefürchtet. So haben sie es ins Parlament geschafft. Heute ist es schwerer, vergangene Verbrechen aufzuarbeiten, als vor den Wahlen. Denn heute haben wir gewählte Volksvertreter, von denen mehr als die Hälfte in diese Verbrechen involviert ist.
Welcher Spielraum bleibt da für eine Menschenrechtskommission?
Wir haben keine Listen von Verdächtigen erstellt, das ist nicht unser Job. Wenn unsere Regierung und die internationale Welt das für wichtig halten, sollten sie über geeignete Mechanismen nachdenken.
Sie meinen ein UN-Tribunal?
Ja, so etwas in der Art. Was wir tun konnten, war, auf der lokalen Ebene zu dokumentieren, was in den Kriegsjahren passiert ist. Vielen Betroffenen würde es schon reichen, wenn die Täter sich bei ihnen entschuldigen. Die Kultur des Vergebens ist sehr stark in Afghanistan verwurzelt. Aber viele Menschen sind sehr enttäuscht, weil ihre Forderung, die Verantwortlichen nicht auch noch mit hohen Ämtern zu belohnen, nicht gehört wird.
Was heißt das für die Akzeptanz der Regierung Karsai und für den künftigen Umgang mit Menschenrechten?
Wir haben die Empfehlungen der Betroffenen aufgegriffen und gemeinsam mit der Regierung und den Vereinten Nationen einen Plan ausgearbeitet. Der wurde letztes Jahr in Holland mit Experten diskutiert. Es ist nirgendwo leicht, schwere Menschenrechtsverletzungen zeitnah aufzuarbeiten. Wir versuchen, die Erinnerung wachzuhalten, mit speziellen Gedenktagen und Symbolen. Es gibt inzwischen auch ein Komitee für diese Dinge, das den Präsidenten berät.
Hört Karsai dabei zu?
Es ist noch zu früh, das zu beurteilen, aber wir hoffen es sehr. Wir müssen auf vielen Wegen versuchen, den Respekt für Menschenrechte zu etablieren. Das ist einer davon. Eine weitere ist die Reform der Polizei, denn auch Polizisten waren für Menschenrechtsverletzungen bekannt.
Deutschland ist federführend in der Polizeiausbildung. Sind Sie damit zufrieden?
Wir sind mit den Kriterien, nach denen die Beamten rekrutiert werden, sehr zufrieden. Leider hat es aber auch Fälle gegeben, wo die Ausbilder diese Kriterien missachtet haben.
Was heißt das konkret?
Es hat 2006 einen Fall gegeben, wo von 65 ausgewählten Bewerbern 14 die Kriterien nicht erfüllt haben. Einige waren selbst früher in Menschenrechtsverletzungen und Drogenhandel verwickelt, andere waren zu ungebildet, um eine hohe Position in der Polizei bekleiden zu können. Die Ausbilder wussten das auch, sagten aber, es habe politischen Druck gegeben, diese Leute aufzunehmen. Wir haben das mit den deutschen Kollegen diskutiert, und sie haben gesagt, dass die entsprechenden Personen erst einmal eine Art Probezeit bekämen. Nach drei Monaten wollte man das Ganze überprüfen. Wir haben das sehr positiv gesehen, denn viele andere Länder, die hier Wiederaufbau betreiben, hören uns Afghanen überhaupt nicht zu. Aber seitdem sind jetzt schon fünf Monate vergangen, ohne dass etwas passiert ist – wir müssen die Deutschen mal wieder daran erinnern.
Welche Folgen können Fälle wie diese haben?
Der Fall wurde bei uns in den Medien sehr stark diskutiert, diese Männer sind schließlich in hohen Polizeiämtern in den Provinzen. Und die Leute sagen: Wenn so etwas mit der Zustimmung der internationalen Gemeinschaft passiert, was wird uns dann demnächst erwarten?
Die Polizeiausbildung steht auch deshalb in der Kritik, weil es kaum Polizistinnen gibt, die Frauen bei der Durchsetzung ihrer Rechte helfen könnten.
Das ist sicher vor allem eine Frage des politischen Willens auf der afghanischen Seite. In allen Bereichen mangelt es an weiblicher Partizipation. Wir hoffen aber sehr, dass Deutschland mit dazu beitragen kann, dass die Leute verstehen, warum wir Polizistinnen brauchen. Wir haben ein riesiges Problem mit häuslicher Gewalt. Frauen in Afghanistan haben kein Vertrauen in die Polizei, weil sie dort oft noch mehr erniedrigt oder gewalttätig behandelt werden. Ich appelliere daher an die Deutschen, mit ihrer Hilfe auf diesem Gebiet die Forderung zu verbinden, dass es eine sichtbare Präsenz von Frauen in der afghanischen Polizei gibt.
Vor allem in den ländlichen Gebieten Afghanistans dominieren traditionelle Stammesstrukturen. Würden Polizistinnen dort akzeptiert?
Sicher brauchen diese Veränderungen eine lange Zeit. Aber wenn wir jetzt nicht beginnen, Dinge zu verändern, wird es bald zu spät sein. Wenn es aber in den Provinzhauptstädten erste Polizistinnen gibt, an die sich Frauen wenden können, dann wird das auch weitergetragen. Viele Frauen bei uns bringen sich um, weil sie keinen Ausweg sehen. Wir müssen ihnen diesen Ausweg bieten, damit sich an den bestehenden Strukturen etwas ändert. Das wird nicht morgen sein, aber die nächste Generation wird schon etwas davon haben.
INTERVIEW: ANETT KELLER