: Farben der Freude
Die Hoffnung feiern in einer Welt der Zynismen: In seinem Wiener Festival „New Crowned Hope“ versucht der amerikanische Regisseur Peter Sellars mit Mozarts Geist die Kunst über den Westen hinauszudenken. Er setzt dabei einiges aufs Spiel – und gewinnt an Sinn durch den neuen Kontext
VON STEFAN GRISSEMANN
Dem langen Arm des alten Wolfgang Amadé hat Wien einiges zu verdanken. Noch im späten Herbst 2006, gut 250 Jahre nach seiner Geburt, sorgt der Geist Mozarts in dieser Stadt für jene sinnliche Aufhellung, die an grau verhangenen Novembernebeltagen so besonders nötig scheint. Bunt blühen die Bäume der Kunst, die Intensität der Farbe ist Programm: Die im Rahmen der vierwöchigen Mozart-Hommage „New Crowned Hope“ bespielten Theater, Kinos, Konzertsäle und Ausstellungshallen sollen, nach dem Willen des Festivalleiters Peter Sellars, zu Orten des Zaubers werden und zu utopischen Kunsträumen. Sie stehen unter dem Wunsch der Überschreitung, mit der die Gesetze der Hochkultur der Ersten Welt stufenlos erweitert und mit dem entlegeneren Traditions- und Ideenpotenzial der Dritten Welt kurzgeschlossen werden: Von der indisch-mythologischen Oper „A Flowering Tree“, mit der Regisseur Sellars und der US-Komponist John Adams das Festival Mitte November eröffnet haben, ziehen sich allerlei farbenprächtige Fäden durch das Programm, quer durch alle Genres und Werke.
Zehn Millionen Euro, immerhin ein volles Drittel des für das Mozartjahr 2006 zur Verfügung stehenden Etats, hat die Stadtpolitik Sellars in die Hand gegeben, um sich gegen Ende des Mozartjahres 2006 noch einen veritablen künstlerischen Höhepunkt zu verschaffen. Das Risiko war nicht gering, glänzte Sellars doch bis wenige Monate vor Festivalstart eher durch vage Andeutungen als konkrete Programmlinien. Die Rechnung der Wiener Kulturverwalter scheint nun allerdings aufzugehen: „New Crowned Hope“, alles andere als der klassische Festival-Gemischtwarenladen, ist ästhetisch wie aus einem Guss. In seiner Betonung nichtdominanter Kunstregionen führt Sellars nebenbei auch die westeuropäische Vorurteilskultur vor: Die negativen Kritiken, die vor zwei Wochen, zur Festivaleröffnung, über Sellars’ Inszenierung der Adams-Oper hereingebrochen waren, verdeutlichten in nahezu allen Fällen den blanken Eurozentrismus der Rezensenten. Alle politisch-sozialen Anspielungen, die hinter den bewusst „naiv“ gezeichneten Oberflächen in „A Flowering Tree“ zu finden waren, verhallten ungehört angesichts des absehbaren kritischen Misstrauens gegen so viel Farbe, Herz und „unzeitgemäße“ Poesie.
Erst im Kontext konnte der Sinn dieser Inszenierung ermessen werden: Mit „Requiem“ etwa, einer brillanten theatralischen Choreografie des auf Samoa geborenen, in Neuseeland arbeitenden Lemi Ponifasio und seiner MAU-Compagnie, demonstrierte Sellars den ethisch-ästhetischen Wert seiner Bevorzugung des Marginalen auf ganz andere Weise. Körper und Objekte schälen sich in „Requiem“ aus dem undurchdringlichen Dunkel des Bühnenhintergrunds, bewegen sich zeremoniell hinter Lichtnebelwänden hervor, um allegorisch vom Leben, vom Leiden, vom Tod zu berichten. Mit ungeheurer Präzision und großer Bildergewalt durchleuchtet Ponifasio die ritualistische Kultur seiner Heimat, der pazifischen Inseln. In der strengen Reduktion seiner Arrangements wurde so, bei allem Traditionalismus, auch ein radikaler Futurismus manifest: die Mythen des Pazifikraums, vom Weltall aus gesehen.
Mit Mozart hat all das indes nur indirekt zu tun. Um dem Meister 2006 gerecht zu werden, so Sellars’ Hypothese, müsse man im Geiste des Künstlers arbeiten, nicht immer nur dessen Kompositionen nachvollziehen. Die Musik des Salzburger Wunderkinds ist während der vier Festivalwochen kaum zu hören; stattdessen: höchst gegenwärtige Variationen über Mozart’sche Generalthemen, über dessen Experimentierfreudigkeit und soziales Engagement.
Die – von einem scharfen Intellekt unterfütterte – Emotion ist Sellars’ Triebfeder, künstlerisch und persönlich: Man spürt, wie sehr ihm die kulturpolitische Überzeugungsarbeit nach unzähligen Inszenierungen und Kuratorenjobs zur zweiten Natur geworden ist. Ihm gehe es weniger um Unterhaltung als um die Idee der Freude, sagt Peter Sellars: „Ich will, dass meine Arbeit Wohlgefallen auslöst, auch in mir selbst.“ Denn: Er glaube fest daran, „dass die Welt sich durch Freude verwandeln lässt“.
Leere Worte sind das nicht. Seiner Arbeit eine strenge Anbindung an die Wirklichkeit zu verschaffen, gehört seit je zu Peter Sellars’ vordringlichen Zielen. Seine künstlerische Sozialarbeit geht so weit, dass bei „New Crowned Hope“ ganz selbstverständlich auch Asylbewerber musizieren und Obdachlose aus eigenen Texten lesen werden. In letzter Sekunde hat der Festivalchef noch die österreichische Biolebensmittel-Bewegung ins Programm genommen – und so begründet: „Wenn ein Bauer in der Lage ist, 80 verschiedene Tomatenarten zu züchten: Ist der nicht ein Künstler? Eine solche Perspektive könnte der Bewegung wirtschaftlich helfen, und wenn die Nachfrage erhöht wird, sinkt der Preis. Bionahrung sollte für jeden erreichbar sein.“
Sellars’ Festival trägt übrigens den Namen einer Freimaurerloge, der Mozart am Ende seines Lebens selbst angehört hat. Für die Loge „Zur neu gekrönten Hoffnung“ komponierte Mozart das letzte Musikstück seines Lebens – und er ist dort letztmals öffentlich aufgetreten. Sellars liebt, wie er sagt, den „karibischen“ Klang des Begriffs vor allem auf Englisch. „New Crowned Hope“, das erinnere ihn „an jamaikanisches Bier“. Was sonst als die Hoffnung gelte es zu feiern, fragt Sellars rhetorisch: „Wir leben in einer Zeit, für die Zynismus eine Untertreibung wäre – insbesondere in den USA: Was ist George W. Bush anderes als zynisch? Er hat Begriffe wie Demokratie oder Freiheit so sehr vergiftet und verdreht, so sehr ihrer Bedeutung enthoben, dass man sie alle ohne schlechtes Gewissen nicht mehr nennen kann. Wenn Freiheit das Wort ist, das Bush für Guantánamo verwendet, was heißt es dann noch? Deshalb liebe ich den Begriff ,New Crowned Hope‘: weil er anregt, sich vorwärtszubewegen, weg von den Reden und den Orten der Herrschenden.“
In seiner Arbeit mischt Sellars seit Jahren schon Theater- und Opernstars mit Laien und Halbprofessionellen, gibt den Inszenierungen einen stark sozialpolitischen, interventionistischen Anstrich. Es sei seltsam, meint er lächelnd, dass er das immer wieder erklären müsse – „ausgerechnet in Wien, wo mit Beethoven, Mozart und Haydn drei der politisch wirksamsten Komponisten arbeiteten, die je gelebt haben. Diese drei haben ganz offen versucht, die Welt besser zu machen. Sie sind von der Idee ausgegangen, dass ein wirklich brillantes Streichquartett tatsächlich die Welt ändern könnte. Kunst ohne sozialen Plan halte ich für absurd. Jede ,apolitische‘ Interpretation Mozarts frappiert mich zutiefst: Wie kann man nicht sehen, was bei Mozart auf jeder einzelnen Seite steht?“
Das Kino sieht Peter Sellars, mit einem Titel Godards als „Notre musique“. Vielleicht ist das Kino tatsächlich „unsere Musik“, der Emotionstreibstoff unserer Ära: Nicht ohne Grund nimmt das Medium in „New Crowned Hope“ viel Platz ein – schon mit den sieben, von den Briten Simon Field und Keith Griffiths kuratierten exzellenten Auftragsarbeiten.
Insbesondere „Daratt/Dry Season“, eine Arbeit des Afrikaners Mahamat-Saleh Haroun, eine ganz schlicht, dabei höchst effizient in Szene gesetzte Rachegeschichte in den weiten Ebenen des Tschads, und das brillant arrangierte Gamelan-Musical „Opera Jawa“ des – mit der Kunstszene seines Landes eng kooperierenden – Indonesiers Garin Nugroho überragten das Filmprogramm des Festivals.
Von den thematischen Leitlinien der drei späten Mozart-Meisterwerke „Die Zauberflöte“, „La clemenza di Tito“ und „Requiem“ ist Sellars ausgegangen: von Magie und Transformation, Wahrheit und Versöhnung, von Totenfeier und politischem Veränderungswillen. All diese Motive blitzten in der zweiten Sellars-Premiere dieses Festivals auf: Um den Opfergang der 1943 jung verstorbenen französisch-jüdischen Philosophin Simone Weil kreist das Oratorium „La Passion de Simone“ der finnischen Komponistin Kaija Saariaho. Amin Maaloufs Annäherung an Weil im Libretto blieb jedoch ebenso wie Sellars’ überraschend einfallsarme Inszenierung weit hinter der impressionistischen Musik Saariahos zurück. Gerade weil sie vom Klangforum Wien und der Solistin Pia Freund souverän interpretiert wurde, hätte sich hier eine konzertante Aufführung tatsächlich eher empfohlen.
„Nichts, was ist, ist ganz der Liebe würdig“, heißt es in Saariahos Weil-Hommage – und: „Man muss das lieben, was nicht ist.“ Darin schwingt nicht nur die politisch motivierte Todessehnsucht der Titelheldin mit, sondern auch das streng utopische (und vielleicht gerade darin so dezidiert mozartianische) Denken des Peter Sellars.