: Die Seuche fliegt weiter
Über Vogelgrippe spricht in NRW kein Mensch mehr. Dabei hat sich das Risiko nicht verringert, warnen Experten. Die Landesregierung hortet Grippemittel für 30 Prozent der Bevölkerung
VON MIRIAM BUNJES
Die meisten sind schon in ihrem nordrhein-westfälischen Winterquartieren angekommen: Allein am Niederrhein rasten zur Zeit 150.000 Wildgänse aus Russland, Sibirien und Kasachstan. Fast die Hälfte aller 180 Millionen einheimischer Vögel pendelt zwischen Deutschland, Skandinavien, Ostafrika oder Nordasien. Im vergangenen Jahr sorgten ihre Fernreisen für eine Massenpanik. „H5N1“ oder schlichter, „die Vogelgrippe“, war fast jedem ein Begriff, ebenso wie das zeitweise ausverkaufte Grippemittel „Tamiflu“. In diesem Winter ist H5N1 kein Thema. Zum Glück, findet die Geflügelwirtschaft in NRW. „Wir lassen uns von den Medien nicht schon wieder das Weihnachtsgeschäft versauen“, sagt Michael Lütz vom Geflügelzüchterverband. „In diesem Jahr haben wir bislang keine Absatzprobleme.“
Nur: „Die Gefahr einer H5N1-Epidemie in Deutschland besteht auch in diesem Jahr unverändert“, sagt Elke Reinking, Sprecherin des Friedrich-Löffler-Instituts (FLI). Die Experten des Bundesinstituts für Tiergesundheit gehen fest davon aus, dass auch in diesem Winter wieder tote Wildvögel mit dem Virus in Deutschland gefunden werden. „Bis jetzt war es noch zu warm, das tötet die Viren ab“, sagt Reinking. „Wir haben im letzten Jahr gesehen, dass sich das Virus innerhalb von einer Woche von Vietnam nach Südschweden ausbreiten kann.“
Zur Zeit grassiert der Vogelgrippe-Virus in Südkorea. Den letzten deutschen Fall gab es am 3. August im Dresdener Zoo. Es starb ein Schwan. Insgesamt gab es 347 H5N1-Tote in der Bundesrepublik: 343 Wildvögel, drei Katzen und ein Steinmarder, die meisten davon beendeten ihr Leben auf der Insel Rügen. In NRW starb kein wildes Tier, allerdings wurden im April 11.000 Puten auf Verdacht gekeult.
„Wir sind in Bereitschaft“, sagt Sabine Raddatz, Pressereferentin des NRW Umweltministeriums. „Dass es noch keine Fälle in Deutschland gab, bedeutet für uns keine Entwarnung.“ In einigen Tagen erwartet das NRW-Gesundheitsministerium die letzte Lieferung des Grippemittels „Tamiflu“. 67 Millionen Euro hat das Land ausgegeben, im Ernstfall können 30 Prozent der Bevölkerung NRWs versorgt werden. Das Lager ist geheim, der Ansturm von Privatleuten auf das Mittel hat die Landesregierung vorsichtig gemacht. Auch einige Universitätskliniken im Land legen eigene Vorräte an. Tamiflu hält sich gekühlt etwa fünf Jahre. „Ob er eine Pandemie wirklich eindämmt, ist wissenschaftlich nicht erwiesen“, sagt Seuchenforscherin Elke Reinking. „Wir leben hier aber sowieso nicht so eng mit Tieren zusammen, dass eine menschliche Pandemie hier wahrscheinlich ist.“ Es ginge vor allem darum, den Virus von Nutztieren fernzuhalten. „In der Massentierhaltung kann er sich blitzschnell vermehren, das ist die große Gefahr“, sagt Reinking.
In NRW darf Geflügel in einigen Regionen in der Nähe von Wildvögelquartieren nur im Stall gehalten werden, betroffen sind vor allem der Niederrhein und Ostwestfalen-Lippe. „95 Prozent aller Vögel werden in NRW sowieso in Ställen oder Legebatterien gehalten“, sagt Bernhard Rüb, Sprecher der Landwirtschaftskammer NRW. „Die Stallpflicht stört also kaum jemanden.“ Auch die Biobauern haben sich damit abgefunden. Sie dürfen ihre Eier trotz Stall Bio nennen. „Die Freilandhaltung ist bei Bio-Eiern ja nicht das einzige Kriterium“, sagt Thomas Ingensand von Bioland NRW.
Tierschützer sehen das kritischer. „Eine Epidemie haben Wildvögel in den letzten Jahren nicht gebracht“, sagt Klaus Drawer. „An dieser Verbreitungstheorie stimmt etwas nicht, trotzdem muss unser Geflügel sein kurzes Leben im Stall verbringen.“ Und auch der Vogelgrippe-Experte vom Bund für Umwelt und Naturschutz, Markus Nipkow, hält andere Übertragungswege für „mindestens genauso wichtig“. „Geflügelteile und Küken werden durch die ganze Welt transportiert, oft auch illegal“, sagt er. „Das sind ideale Brutstätten für Viren.“