: Der russische Sonderweg
Putin macht daraus keinen Hehl mehr: In Russland herrscht wieder der autoritäre Staat. Auf das neue russische Selbstvertrauen sollte die EU mit ebenso klaren Worten reagieren
Die Planziffern sind vorgegeben: Jede Woche soll die Miliz in Sankt Petersburg 150 Georgier in Gewahrsam nehmen. 50 sind des illegalen Waffenbesitzes und 50 des Drogenmissbrauchs anzuklagen; dem Rest droht ein Eilverfahren wegen illegalen Aufenthalts in Russland. Dies geht aus einer internen Dienstanweisung vor, die dem Menschenrechtler und Anwalt Juri Schmidt zugespielt worden war. Russland und Georgien haben sich politisch überworfen. Wer einen georgischen Namen trägt, muss mit Sippenhaft rechnen. Fast 70 Jahre sind vergangen, seitdem Diktator Josef Stalin 1937 den Geheimdienst NKWD mit gleichen Planvorgaben auf die Jagd nach Volksfeinden schickte.
Moskau zeigt sich derzeit von einer archaischen Seite: Nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja herrschte Schweigen im Kreml. Erst im Ausland reagierte Putin, notgedrungen: Die Journalistin habe auf den Lauf der Politik keinen Einfluss gehabt. Ihr Tod sei für Russland ein größerer Schaden, als ihre Arbeit je hätte anrichten können, so Wladimir Putin in Dresden, der letzten Dienststelle des einstigen KGB-Spions. Die Sprache hat sich den Inhalten der Politik wieder genähert. Der liberale und universale Wertediskurs, den Putin sonst im Westen pflegte, ist obsolet geworden. Russland hat wieder Selbstbewusstsein und gibt sich ganz unverkrampft. Wir sind wieder wer und sprechen nicht mehr mit doppelter Zunge.
Die EU hat dies endlich registriert. Drei Tage vor dem EU-Russland-Gipfel in Finnland nannte Brüssel das Kind beim Namen: Mit der Blockade im Kaukasus wolle Moskau Georgien ersticken. So ist es, so sollte man es denn auch benennen. Ohnehin hält der Kreml Political Correctness für eine Ausgeburt westlicher Dekadenz. Auf dem Gipfel in Lahti will die EU Georgien, den Fall Politkowskaja und die Energie-Charta, der sich Russland verweigert, offensiv behandeln. In der Tat wäre es an der Zeit, die Strategie der Einbindung Russlands aus den Neunzigerjahren zu korrigieren. Das Riesenreich will sich nicht einbinden lassen, die EU kann Russland bestenfalls partiell und projektbezogen anbinden. Kraftlose Mahnungen und Schelte bewirken nichts: Im Gegenteil: Moskau weiß um die Impotenz des Westens und ist weniger auf sein Image bedacht als die ehemalige Sowjetunion.
Russlands neues Selbstvertrauen und der Glaube, sich wieder zu einem geopolitischen Gravitationszentrum entwickeln zu können, fußen indes auf nicht viel mehr als dem hohen Ölpreis. Angereichert wird das mit einem Minderwertigkeitskomplex, der nun schon seit Jahrhunderten phasenweise zwischen Demut und Aggressivität oszilliert. In der Gesellschaft herrschen jedoch Ruhe und Zufriedenheit. Das Volk delegierte seine Interessen erleichtert an die Bürokratie. Und dies geht so lange gut, wie der Rubel auch rollt und der Staat das Ohr am Volk hat.
Gesellschaft war in Russland immer eine Veranstaltung des Staates. „Russland, dessen Bevölkerung wie ein gewaltiger Leib ohne Leben dazuliegen scheint, wird nur von der Regierung, gleichsam auf galvanische Weise, zu Zuckungen gebracht“, heißt es in einer Schrift aus dem frühen 20. Jahrhundert. Der Staat ordnet oder unterlässt es, er mobilisiert und reformiert. Der Mensch wird zum Statisten degradiert, das kritikfähige Subjekt macht sich gar verdächtig. „Ein zufriedener Schurke ist ein besserer Untertan als ein ehrenhafter, aber unzufriedener Mann“, meinte der englische Russlandexperte Lanin Ende des 19. Jahrhunderts.
Es war auch mal anders. Im demokratischen Aufbruch der Neunzigerjahre versuchte das Riesenreich dem ewigen Teufelskreis zu entrinnen. Eine verängstigte Bürokratie verkroch sich in den Amtsstuben. Eine zivile Gesellschaft entstand, seit 700 Jahren erstmals bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Doch der Enthusiasmus verflog gegen Ende der Neunzigerjahre. Erschöpft fiel Russland in einen tiefen Winterschlaf, aus dem es nun langsam erwacht. Bürokratie und Staat sind unterdessen nicht untätig geblieben. Demokratische Ansätze, von der freien Presse bis zum Staatsaufbau, sind nach dem autokratischen Prinzip zurückgebaut worden. Die letzten Soziotope der Bürgergesellschaft werden gerade trockengelegt. Die Gegenreformation ist gründlich ausgefallen, nun steht der Rachefeldzug an.
Der politische Diskurs kreist um eine Wertewelt, die einer ländlichen Vormoderne entlehnt ist. Das boomende, glitzernde Moskau errichten Menschen, die die Mentalität des russischen Dorfes mit in die Stadt gebracht haben. Die aufgeschobene Begierde, Hegels Entwicklungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, wird dem Konsumrausch geopfert. Russland lebt, als wäre es der letzte Tag. Offensichtlich traut es der eigenen Zukunft nicht, man will partout nicht nach vorne schauen. Analyse und Selbstreflexivität sind verpönt, die offizielle Selbstbeschreibung bewegt sich auf dem Niveau von Legendenbildungen.
Trotz der Verwerfungen in den Neunzigerjahren herrschte damals eine stabile Instabilität. Dafür sorgte eine gewisse Pluralität der Interessen. Unter Putin entwickelte sich eine instabile Stabilität. Sechs Jahre nachdem Wladimir Putin die „Diktatur des Gesetzes“ ausrief, gilt dies weniger als je zuvor. Recht und Gesetz dienen als Machtmittel und werden nicht zur Rechtswahrung eingesetzt – eine jahrhundertelang geübte Praxis. Daher fällt es den Bürgern schwer, dem Gesetz mit Respekt zu begegnen.
Russlands politische Kultur ist seit dem Ende der Kiewer Rus im 13. Jahrhundert in einem Binarismus gefangen. Während andere Gesellschaften aus Widersprüchen ein neues Drittes gebären, gelinge dies in Russland nicht, schrieb der Semiotiker Juri Lotman am Vorabend des Untergangs der UdSSR. „Ein traditioneller Binarismus des Bewusstseins obsiegt, der eine kompromisslose Teilung der politischen Kräfte in Freund und Feind, Gut und Böse vornimmt.“
Die Modernisierung ist gescheitert, Putin hat sie längst von der Agenda gestrichen. Statt dem Weg des europäischen Zivilisationstypus zu folgen, entschied sich der Kreml für den traditionellen Trampelpfad. Russland sei ein eigenständiger Zivilisationstyp, der einen Sonderweg beschreite. Im Gegensatz zum kalten, rationalen Westen gebühre in Russland auch der Irrationalität ein Platz. Wie die „russische Seele“ ist auch dieser Entwurf Produkt einer literarischen Fiktion, ein ideologisches Konstrukt.
Die orthodoxe Kirche gab und gibt auch heute wieder ihren Segen. Gleichwohl ist die Methode ein Auslaufmodell. Russland hat mittlerweile nicht nur den Anschluss an den Westen verpasst, selbst China und Indien drohen ihm den Platz streitig zu machen. Die Obsession des Sonderweges fasste der Gelehrte Sergei Awerinzew einst in ein Paradox: „Unsere Hoffnung besteht in der Unlösbarkeit unserer Fragen.“ Denn die Unlösbarkeit zwinge die Russen, aus Angst vor dem moralischen und intellektuellen Untergang ein anderes, höheres Niveau aufzuspüren. Die unlösbaren Fragen bleiben bestehen.
KLAUS-HELGE DONATH