: Eisiges Zeugnis von Gewalt
DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW
Was symbolisiert eine größere Gefahr für die Zukunft der Menschheit: al-Qaida oder der Eisberg B-15A? Was für eine unsinnige Frage, werden Sie spontan antworten. Jedes Kind kennt inzwischen die Terrororganisation, die wie ein Krake scheinbar den ganzen Globus umspannt und jeden Tag überall zuschlagen kann. Al-Qaida ist das allgegenwärtige Schlagwort in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht. Der Eisberg B-15A hingegen ist – ähnlich einem ausgefallenen Paragrafen in der Steuergesetzgebung – nur den Spezialisten bekannt. Al-Qaida dominiert fast täglich die Schlagzeilen, der nüchtern getaufte Eisberg figuriert dagegen prominent nur in Fachpublikationen wie dem Magazin Nature.
Dabei verdeutlicht B-15A auf eine dramatische Art, in was für einem rasanten Tempo wir unseren Planeten vernichten. Die erschreckende Wahrheit ist, dass im Sommer dieses Jahres die Risse und Lücken in der Arktis so groß waren wie die gesamte Fläche der britischen Inseln und dass – in den Worten des Eis- und Ozeanexperten Mark Drinkwater – „ein Schiff wohl von Spitzbergen oder Nordsibirien aus ohne Probleme bis zum Nordpol fahren könnte“, durch ein Gebiet also, das früher dichtes, undurchdringliches Packeis war.
Auch die Eisflächen Grönlands werden immer kleiner. Zwischen April 2002 und April 2006 seien jährlich rund 248 Kubikkilometer Eis verloren gegangen, der Großteil davon in Südgrönland, berichten die Forscher der Europäischen Weltraumorganisation (ESA), die per Radarbilder des Satelliten Envisat diese Entwicklung verfolgen. In den vergangenen 25 Jahren haben sie einen zunehmenden Rückgang des jährlichen Eistiefststandes in der Arktis registrieren müssen.
Anfang der Achtzigerjahre waren am Ende eines jeden Sommers etwa acht Millionen Quadratkilometer Eis übrig geblieben, im Jahr 2005 waren es nur noch 5,5 Millionen. Und während wir uns die Köpfe heiß reden, was wohl die Ursachen für die anschwellende terroristische Gewalt sein mögen, sind sich die Experten über die Gründe für die Eisschmelze durchweg einig: der Treibhauseffekt.
Nachrichten über den Eisberg B-15A (oder über die nachfolgende Generation, die kleineren Eisberge B-15M, B-15N und B-15P) sind den meisten Medien viel weniger Platz wert als die jüngste Autobombe in Bagdad, die neueste Diskussion über das muslimische Kopftuch oder weitere Überlegungen zur inneren Sicherheit. Warum erfahren wir so wenig über die katastrophalen Folgen der globalen Erwärmung – man könnte als Beispiel natürlich ebenso Hunger oder Seuchen oder Trinkwassermangel nehmen?
Warum diskutieren wir so selten über die radikalen Schritte, die wir zur Abwendung des Schlimmsten unternehmen müssten, und warum beschäftigen wir uns so viel mit dem Terrorismus? Bezeugen die Satellitenaufnahmen nicht Selbstmordanschläge von viel größerem Ausmaß als jene der Fanatiker? Und ließe sich die Zerstörung der Arktis nicht auch eindrücklich visualisieren, wenn auch nicht so eindrücklich, wie es zerfetzte Fahrzeuge und Körper tun?
Immerhin bricht ein Stück von der Größe Luxemburgs aus dem ewigen Eis, treibt umher und zerfällt dann in kleinere Stücke, bevor es sich schließlich in Wasser auflöst. Ist die Aufnahme von zergehender Ewigkeit, wenn auch nur im Eisbergformat, für halbwegs fantasiebegabte Menschen nicht ein grausiges Zeugnis von Gewalt? Gewiss liegt es nicht an der Zahl der Opfer, denn die sinnlos vergeudeten, unschuldigen Menschenleben, die direkt oder indirekt der Umweltzerstörung geschuldet sind, gehen in die Millionen.
Die Antwort ist einfach und besorgniserregend: Weil die Ökologie keine Erregungslobby besitzt. Würden wir ähnlich hysterisch auf den Treibhauseffekt wie auf den Terrorismus reagieren, müssten wir alle mit Schwimmwesten herumlaufen und Schlauchboote auf unseren Gepäckträgern befestigen. Stattdessen sind wir voreilig bereit, mühsam erkämpfte Bürgerrechte aufzugeben und eine stolze Haltung der kulturellen und religiösen Toleranz als gescheitert abzutun, während wir die kolossalen Schäden unserer Wirtschaftsweise achselzuckend hinnehmen.
Ein weiterer Grund ist, dass sich Warnungen vor ökologischen und sozialen Katastrophen nicht annähernd so gut instrumentalisieren lassen wie der Kampf gegen den Terror. An dem verdienen sich nicht wenige eine goldene Nase und er passt zudem jenen Kräften in den Kram, die sich bequem und behaglich im gegenwärtigen Status quo eingerichtet haben. Mit anderen Worten: Es werden bei dem kleineren Übel Opfer eingefordert und erbracht, die man dem Volk angeblich zur Bekämpfung des größeren Übels nicht abverlangen kann. Erstaunlich, wie schnell Gesetzesinitiativen verabschiedet und internationale Zusammenschlüsse vereinbart wurden, die im Bereich des Umweltschutzes als unrealistisch angesehen werden.
Die mediale Darstellung entspricht dieser Gewichtung. Die Einschätzungen der Klimatologen und anderer Wissenschaftler, die sich im Großen und Ganzen einig sind, werden in Zweifel gezogen, ihre Warnungen anhand kleinerer Ungewissheiten relativiert, während die Spekulationen und Übertreibungen der Sicherheitsexperten oft kritiklos wiedergegeben werden. Al-Qaida oder der islamische Fundamentalismus (oder wie auch immer dieser Gegner genannt wird) sei „die größte Herausforderung für die westliche Demokratie seit dem Ende des Kalten Krieges“, wird ebenso leichtfertig behauptet wie – vor allem in letzter Zeit unter Konservativen in den USA – dass all jene, die den Krieg gegen den Terror nicht mit allen Mitteln unterstützen, so verantwortungslos handelten wie einst all jene, die es nicht wagten, Hitler vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Paroli zu bieten.
Der Vergleich einer Terrororganisation mit einem totalitären Staat ist so lächerlich, dass man ihn, auch wenn er in vielen Talkshows, Kommentaren und Sonntagspredigten wiederholt wird, mit Verachtung ignorieren müsste. Doch dahinter steckt eine bemerkenswerte Verdrehung der geschichtlichen Tatsache, dass der Staatsterrorismus stets der schlimmste Terrorismus war: Hitler, Stalin und Mao Tse-tung mögen als Zeugen der Anklage genügen. Die mächtigsten Apparate stellen die größten Vernichtungsmaschinen. Die Absurdität und die Heuchelei der jetzigen Situation wird offenkundig, wenn man bedenkt, dass bei der Bekämpfung des Terrorismus etwa 100.000 irakische Zivilisten sterben mussten.
Nichts wäre falscher als die Behauptung, wir könnten uns Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit nicht mehr leisten. Mehr denn je müssen wir uns diesen Herausforderungen stellen, weil sie uns im wohlhabenden Westen heute unmittelbarer betreffen als in früheren Zeiten.
Die wirkliche Gefahr, die vom Terrorismus ausgeht, betrifft nicht unsere friedliche Existenz, sondern unsere Wahrnehmung. Wenn wir zulassen, dass wir die wahren Probleme der Menschheit aus den Augen verlieren und auf die offensichtlichen Krisen des Kapitalismus mit Intoleranz und autoritäreren Strukturen reagieren, steht uns das Wasser bald wirklich bis zum Hals.