: „Hannah Arendt wird in Israel gehasst“
Kein Denker polarisiert in Israel so stark wie Hannah Arendt. Denn ihre Kritik des Zionismus rührt an die Mythologien des israelischen Staates. Doch mit dem Verblassen des Zionismus wächst das Interesse an Arendt, so Idith Zertal
taz: Frau Zertal, Hannah Arendts Werk wurde bis heute nicht ins Hebräische übersetzt. Sie wird in Israel noch immer gehasst. Warum?
Idith Zertal: Der enorme Hass auf Hannah Arendt ist ein interessantes und empörendes Phänomen, weil er nicht durch die Auseinandersetzung mit ihrem Werk entstand. Denn niemand hatte es gelesen. Deshalb kann man von einer hysterischen, ja fast pathologischen Reaktion sprechen, die nur psychologisch zu erklären ist, gegen etwas sehr Bedrohliches, Beängstigendes.
Neulich hat sich eine angesehene Professorin im israelischen TV empört, man hätte Hitlers „Mein Kampf“ übersetzt – und bald würde wohl auch noch Hannah Arendt übersetzt. Woher kommt diese Ablehnung? Wegen Ihrer Haltung zum Zionismus?
Ich glaube ja. Denn dieser Konflikt entstand nicht erst nach dem Eichmann-Prozess 1961, sondern in den 30er-Jahren. Ihr Konflikt mit Gershom Scholem, der ihr mangelnde Empathie für die jüdische Sache vorwarf, ist bezeichnend. Im Zionismus sah sie zuerst einen revolutionären Akt in der jüdischen Geschichte, eine Rückkehr in die Geschichte aus einer Lage der Weltlosigkeit, des Zustands, der den Juden nicht nur von außen auferlegt, sondern auch von ihnen selbst akzeptiert wurde. Und da kommt der Zionismus und kehrt dies um. Sie war begeistert.
Aber das ändert sich?
Ja. Arendt erkannte schnell den exklusiven, auf Ethnie aufgebauten Charakter des Zionismus und sein Gewaltpotenzial, die ihrer Idee eines zivilen Staats widersprach. Gerade den militaristischen Charakter Israels und seine Abhängigkeit von äußeren Großmächten lehnte sie ab, denn darin erkannte sie schon früh eine Quelle zunehmender Isolierung und wachsenden Hasses in der Region. Ein militärisches Projekt, wie der Zionismus nun einmal ist, und ein messianisches Projekt, das „Land der Väter“, eine mythische Urheimat zu besiedeln, konnte Arendt nicht akzeptieren. Ihre Ablehnung des Nationalstaats und dessen Exklusivansprüchen und Ausgrenzungsmechanismen gegenüber ethnischen Minderheiten führte unausweichlich zu einem Konflikt mit dem zionistischen Establishment, das ja den jüdischen Charakter Israels immer betonte.
Wie würden Sie dabei die Rolle ihrer Kritik des Eichmann-Prozesses 1961 veranschlagen?
Das war der Stein des Anstoßes schlechthin. Die Empörung in Israel hing damit zusammen, dass sie die Judenräte kritisierte. Arendt unterstreicht zwar, dass die Judenräte unter totalem Terror agierten und vor allem Menschen retten wollten, sagt aber auch, dass sie ungewollt der NS-Vernichtungsmaschinerie geholfen haben. Der Zionismus sah das Diaspora-Judentum noch viel negativer, doch der Eichmann-Prozess sollte diesen Konflikt mit der Diaspora wieder entschärfen. Doch dann kommt ein Flüchtling, eine Frau, die keine Zionistin ist, und deckt das Verdrängte in ungewöhnlicher Schärfe auf. Das ging gegen den Strich des zionistischen Mythos, der auf der Dichotomie zwischen dem bösen Nationalsozialismus und dem guten Zionismus aufbaut.
Sie haben mit Moshe Zuckermann einen Band herausgegeben, der sich mit Arendt befasst, kürzlich gab es eine Konferenz über Arendt in Tel Aviv. Kommt sie also zum ersten Mal in Israel in Mode?
Der israelische Nationalstaat befindet sich in einem Prozess des Zerfalls in einzelne Teile. Der große nationale Diskurs, das große zionistische Narrativ à la Ben Gurion existiert nicht mehr. Heute besteht die israelische Gesellschaft aus vielen großen Minderheiten. Eine einheitliche Gesellschaft mit einer einheitlichen Erinnerungskultur gibt es nicht mehr. Das ermöglicht die Entstehung einer Vielzahl von Diskursen, auch alternativen. Hinzu kommt die Generationsfrage. Meine Studenten haben keine offene Rechnung mit dieser Frau.
Kann man von einer Arendt-Renaissance in Israel sprechen?
Nein, Arendt ist Minderheitengeschmack. Aber es gibt heute in Israel Menschen, die ihre Fragen nutzen, um das zionistische Narrativ in einem radikal kritischen Licht zu betrachten.
Auch die für Arendt bedeutende Frage der Zivilcourage?
Ja, natürlich. Denn das ist immer noch schwierig in Israel. Gerade in Krisensituationen steht die gesamte Nation in einer Reihe an der Seite der Armee. Und jeder, der eine kritische Stimme erhebt, wird als Verräter wahrgenommen.
Weil Israel sich selbst als Opfer wahrnimmt?
Ja. Unsere Fähigkeit, uns als ewiges Opfer zu betrachten, während wir Furchtbares tun – nach innen wie außen –, ist nur durch die Beibehaltung eines unkritischen, irrationalen und mythologisierenden Narrativs möglich. Arendt dekonstruiert das. Deshalb gibt es kaum einen Denker, der so dringend gelesen werden sollte in Israel – und deshalb wurde und wird sie auch so gehasst.
INTERVIEW: TSAFRIR COHEN