: Eine unbequeme Moral
Ortstermin, Berlin, Kino International. Al Gore hat eine kleine Frage: Sind wir bereit, uns der größten Herausforderung zu stellen und Verantwortung für die Welt unserer Kinder zu übernehmen?
VON PETER UNFRIED
Für einen nüchternen Deutschen ist es ungewohnt, offensiv Verantwortung für die Welt „unserer“ Kinder und Enkel übernehmen zu sollen. Vor allem, wenn man selbst keine Kinder hat. Deshalb haben rücksichtsvolle Grünen-Politiker den schön-aseptischen Begriff der „Nachhaltigkeit“ eingeführt. Aber auch wenn man Kinder hat und sich selbstverständlich um deren Zukunft sorgt, klingt das Insistieren auf der Verantwortung am Anfang pathetisch und fremd und amerikanisch.
Aber es kommt noch härter. Hören wir mal rein, was Albert („Al“) Gore Jr. am Montagabend in Berlin über die globale Klimaerwärmung gesagt hat. Der Demokrat und ehemalige Vizepräsident der USA stand auf der Bühne des Kinos International. Er sagte: „Wir stellen uns der gefährlichsten Krise, der sich die Menschheit jemals zu stellen hatte.“ Bumm. „Es ist eine gemeinsame, moralische Sache, für die wir uns über unsere Limitiertheiten erheben müssen.“ Bumm. „Wir schulden es unseren Kindern und Enkeln.“
Gore, 58, war gekommen, um „Eine unbequeme Wahrheit“ („An Inconvenient Truth“) vorzustellen. Der Film ist im Wesentlichen eine Vorlesung von Gore über die Gefahren des globalen Klimawandels und startet an diesem Donnerstag in Deutschland. Es ist der dritterfolgreichste Dokumentarfilm in der Geschichte der USA. Ein Hauptgrund dafür heißt: Hurrikan „Katrina“.
Gores Vortrag dauerte nur wenige Minuten. Er bedankte sich, dass Deutschland „Führungskraft im Bereich erneuerbare Energien demonstriert hat“, er begrüßte den Bundesumweltminister Gabriel („Sigmar, bitte steh mal auf!“), den er am Nachmittag gesprochen hatte. Und er penetrierte seine Kernbotschaft: Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes sei keine politische, sondern eine moralische Aufgabe. Die größte und wichtigste, die sich unserer Generation stellt.
Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Man begnügt sich mit ästhetischem Geplaudere. Ja, die globale Erwärmung. Ein Problem. Energiepolitik, Abhängigkeiten, nichts Neues. Und Gore ist ganz schön fett geworden. Zweite Möglichkeit: Konzentration auf den Inhalt. Um Gores unbequeme Wahrheit unpathetisch zusammenzufassen: Die Klimakatastrophe ist kein theoretischer Diskurs für Leitartikel und Partytalk, sie kommt schneller als erwartet. Schlimm, aber: Wir können sie aufhalten. Aber nur, wenn wir alle JETZT unseren Arsch hochkriegen. Zuvorderst die US-Amerikaner. Im Prinzip geht es aber um eine globale Allianz von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, mehr nicht.
Selbstverständlich werden Gores Motive in Frage gestellt, immer wieder wird vermutet, es gehe ihm nicht um die Rettung der Welt, sondern um einen dritten Anlauf auf die Präsidentschaft 2008. Ach? Es gab schon Schlechteres als einen US-Präsidenten, der sich um den Klimaschutz kümmert.
In dem Film des Regisseurs David Guggenheim erzählt Gore, wie er als junger Politiker die damals neuen Ergebnisse der Wissenschaft in Sachen Klimaerwärmung in den Senat brachte und dachte: „Das wird sie so erschüttern, wie es mich erschüttert.“ Falsch gedacht. Es passierte nichts. Das ist das Drama seiner politischen Laufbahn und nicht die gewonnene und doch verlorene Präsidentschaftswahl 2000.
Daraus resultiert der Strategiewechsel. Hin zur Gesellschaft, hin zur Emotion. Fakten allein reichen nicht. Es braucht etwas Höheres, es braucht Moral.
Wird der Film auch in Deutschland ein Massenpublikum finden? Umweltminister Gabriel (SPD) hält „Eine unbequeme Wahrheit“ für einen „sehr guten“ und „wichtigen Film“ und rät derzeit jedem, ihn sich anzusehen. Klar ist aber: Die deutsche Ökoszene muss sich von Gore nicht erzählen lassen, dass man die Niederlande demnächst unter Wasser suchen muss. Stimmt schon, sagt Hermann Ott, Leiter des Berliner Büros des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Aber: „Die Kenntnis der jüngsten, dramatischen Veränderungen ist nicht zu den Entscheidern durchgedrungen. Die denken immer noch: Wir haben ja noch Zeit.“ Deshalb sei der Film „ungeheuer wichtig“. Cartoons, Witzchen usw. seien nicht sein Ding, aber vielleicht genau richtig, um den Mainstream zu erreichen und zu emotionalisieren. „Wir brauchen Leidenschaft und Emotion“, sagt Ott. Das Kinder-Argument? „Ich sehe keine Wertekluft. Die Verantwortung für die Kinder ist diesseits und jenseits des Atlantiks dieselbe.“
Wer Gore am Montag nicht erlebt hat, dem sei gesagt: Es war ein nüchterner und doch bewegender Auftritt. Als man danach nach Hause kam, öffnete man die Tür zum Kinderzimmer.
Leises Atmen. Alle am Leben.
Das soll auch so bleiben.