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Archiv-Artikel

Lernabenteuer Islam

Vor einer Woche hat eine Sommeruniversität mit Teilnehmern aus Europa, Amerika und den Ländern des Nahen Ostens begonnen – in Beirut. Junge Wissenschaftler beschäftigen sich – im Vergleich von Orient und Okzident – mit dem irakischen Prosagedicht und der Entwicklung der anglophonen arabischen Literatur, dem Musiktheater im Libanon und der verstörenden Wahlverwandtschaft zwischen arabischen Schriftstellern und einem jüdischen Autor: Franz Kafka. Und natürlich streiten sie nicht nur über Literatur, sondern über Krieg und Frieden.

„Verflechtungen“ heißt das Schlüsselwort des Berliner Forschungsverbundes, der, zusammen mit der American University in Beirut, die Sommerakademie geplant hat. Der Name des Forschungsverbundes ist Programm: Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa. Es gibt keine ferne Fremde mehr. Friede und Krieg im Nahen Osten berühren Europa unmittelbar.

Es ist Halbzeit in Beirut. Das Kulturzentrum, in dem die Sommerakademie heute Abend tagen sollte, ist durch einen Bombenangriff zerstört worden. Die libanesischen Kollegen haben darum gebeten, dass es beim Tagungsort Beirut bleibt. Nicht, so sagten sie, weil dies jetzt wieder möglich ist, sondern weil es später vielleicht nicht mehr möglich sein wird.

Die Sommeruniversität im Libanon bildet einen neuen Abschnitt der Projekte, die vor zwölf Jahren ihren Anfang nahmen: Moderne und Islam hieß das Leitthema. Damit begann – nach dem Engagement in Mittel- und Osteuropa – ein neues Lernabenteuer des Wissenschaftskollegs. Verstärkt wurde unsere Überzeugung von der Notwendigkeit der Forschung und vom Nutzen der Wissbegierde.

Terror und Gewalt setzten unseren Projekten regelmäßig die Zäsuren: der Mord an Jitzhak Rabin, die neue Intifada, der 11. September 2001, der zweite Irakkrieg, die Kämpfe im Libanon. Forschung in Zeiten des Krieges – eine Chronik der Vergeblichkeit? Ihn erfasse das Gefühl eines schrecklichen Déjà-vu, schrieb im Sommer ein Orientwissenschaftler, der lange in Beirut gelebt hatte. Klein und nichtig komme man sich in Kriegszeiten vor. Bleibt der Wissenschaft nur das Schweigen?

1793 fragte der Verleger Carl Spener Immanuel Kant, ob man nicht eine Neuauflage seiner „herzerhebenden“ Abhandlung „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ ins Auge fassen könne. Deren Kerngedanke einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ habe bei den europäischen Fürsten kein Echo gefunden. In Zeiten wachsender politischer Spannung müsse man dies ändern, forderte Spener: „Ist es nicht Pflicht, durch irgendeinen Tropfen Öls die schreckliche friction zu vermindern, die Hunderttausende zu zerquetschen droht?“

Kant lehnte ab: „Wenn die Starken in der Welt im Zustande eines Rausches sind“ […], warnte er, „so ist einem Pygmäen, dem seine Haut lieb ist, zu raten, dass er sich ja nicht in ihren Streit mische.“ Drei Jahre später mischte der Philosoph sich ein: Die Schrift „Zum Ewigen Frieden“ war auch an die „Starken in der Welt“ adressiert. Es handelte sich dabei, wie selbst Kritiker sagten, um „eine ernste, tiefe, überschwänglich große Idee“, und „wenn es eine Wissenschaft gäbe, die die Mittel zum ewigen Frieden lehrte, so wäre diese unter allen menschlichen die höchste“ (Friedrich Gentz).

[…] Der Frieden und die Wissenschaft sind keine natürlichen Alliierten. Die Wissenschaft kann der Tropfen Öl sein, der schreckliche „frictionen“ mildert; oft aber wirkt sie wie Öl, das man ins Feuer gießt. Die Orientwissenschaften sind dafür ein Beispiel. Bismarck nannte die orientalische Frage ein Gebiet, auf welchem die Deutschen ihren Freunden nutzen und ihren Gegnern schaden könnten. Nutzen und Schaden sollte das Seminar für Orientalische Sprachen befördern, das auf Initiative des Reichskanzlers 1887 an der Berliner Universität gegründet wurde. Im Dritten Reich wurde das Seminar Teil der Auslandswissenschaften, die sich mit den „Kulturideologien fremder Völker“ beschäftigten. Ihren Aufschwung erlebten sie im Zweiten Weltkrieg; angesiedelt im Reichssicherheitshauptamt der SS, war die zentrale Aufgabe der Auslandswissenschaften die „weltanschauliche Gegnerbekämpfung“ – „auf rein wissenschaftlicher Basis“, wie ein Referent namens Adolf Eichmann betonte.

Angesichts der auch in Europa wachsenden Bedrohung durch den islamistisch geprägten Terror wird gefordert, die „Auslandswissenschaften“ sollten verstärkt „Gegnerforschung“ betreiben und im Weltbürgerkrieg der Gegenwart in Stellung gehen. Die Forderung wirkt durch die Verwendung des Vokabulars aus der Nazizeit provokativ – in der Sache ist sie es nicht.

Es wäre selbstmörderisch, auf „Gegnerforschung“ zu verzichten. Notwendig ist es, der Militanz wehrhaft zu begegnen – auch mit den Mitteln der Wissenschaft. Es reicht aber nicht mehr aus, sich zum Erkennen von Gegnern und zur Abwehr von Feinden wie in Bismarcks Zeiten in die Mentalität von Fremden zu versetzen. Wenn beispielsweise der britische Innenminister die Terroristen von London „sehr böse Menschen“ nennt, spricht er nicht nur von Muslimen, sondern zugleich von britischen, in Großbritannien geborenen Staatsbürgern.

Um zu verstehen, wie sie zu Terroristen wurden, genügt keine „Auslands-“, dazu bedarf es auch einer „Inlandswissenschaft“. Nicht nur die Abwehr des Islamismus, auch die Kritik des Islam ist – wie jede Religionskritik – legitim. Diese Kritik aber kann die Versäumnisse der europäischen Integrationspolitik nicht kompensieren.

Das heißt: Angesichts der Bedrohung, der wir uns gegenübersehen, muss man den Nutzen einer Disziplin wie der Islamwissenschaft für die „Gegnerforschung“ nüchtern einschätzen. Wenn wir glauben, die Ursachen des Terrors einzig in den „Kulturideologien fremder Völker“ finden zu können, sind wir längst Kombattanten im „Krieg der Kulturen“, den die Fundamentalisten herbeibomben wollen.

Dagegen können wir aber auch nicht das treuherzige Wunschbild einer „Koalition der Kulturen“ setzen. Was wir dagegensetzen müssen, ist zunächst die historische Einsicht in die engen Verflechtungen des Westens mit der islamischen Welt.

Die Erinnerung an diese Verflechtungen ist ein Skandalon, ein Ärgernis für beide Seiten. Wie groß dieses Ärgernis im Westen stets gewesen ist, zeigt ein Schlüsseltext europäischer Aufklärungsskepsis, die Preisschrift Rousseaus aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, in welcher die Frage nach dem Nutzen der Wissenschaften und der Künste für die Gesellschaft negativ beantwortet wird. Rousseau erinnert an die Vorgeschichte der Renaissance, als Europa in Unwissenheit und Barbarei zurückgefallen war: „Es musste eine Revolution erfolgen, um die Menschen zur gesunden Vernunft zurückzuführen; sie kam endlich, und zwar von einer Seite, woher man es am wenigsten vermutet hätte. Der dumme Muselmann, dieser geschworene Feind der Gelehrsamkeit, war es, der sie unter uns wieder aufweckte.“

Die Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 macht „den dummen Muselmann“ zum Miturheber von Renaissance und Aufklärung – ein Skandal, für das europäische Selbstbewusstsein ein Stolperstein. Bis heute. Wollen wir, wenn wir der laizistisch verfassten Türkei die Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit dem Argument vorenthalten, auf unserem Kontinent werde ein muslimisches Land ein Fremdkörper bleiben, wissen, wie sehr unser christliches Mittelalter vom Islam geprägt wurde? Darf man daran erinnern, dass Europa das antike Erbe auch durch die Vermittlung der arabisch-islamischen Kultur empfangen hat? Können wir die Aufklärung noch länger als westliches Unikat beanspruchen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass sie ihre jüdisch-arabischen Wurzeln hatte? Gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union sprechen schwerwiegende Gründe: die Missachtung der Menschenrechte, der fehlende Minderheitenschutz, das drohende demografische Ungleichgewicht, die Gefahr einer Funktionsunfähigkeit der europäischen Institutionen. Gegen die Aufnahme der Türkei spricht nicht, dass damit das christliche Europa seine Seele verlöre. Europa – darin lag seine Stärke – hatte nie eine reine Seele.

Ebenso wenig aber kann der Islam „Reinheit“ für sich beanspruchen – wie es die türkischen Gegner eines EU-Beitritts ihres Landes tun, die Europa als „Christenclub“ beschimpfen. Der Islam war nicht nur eine religiöse, sondern auch eine ästhetische und profane, vor allem aber war er keine monolithische, sondern eine fraktale, eine gebrochene Kultur. Und er war lange Zeit und an vielen Orten mit dem christlichen Westen und der jüdischen Welt eng verbunden. Dies auszusprechen ist auch ein Skandal, ein Stolperstein für Islamisten – ebenso wie die Erinnerung daran, dass der Koran das Produkt einer mit anderen Religionen und Kulturen geteilten Antike, einer mit dem Westen in politischen Kämpfen und interkonfessioneller Polemik gemeinsam durchlebten Geschichte ist.

Heute gewinnen die Orient- oder Islamwissenschaften eine neue Bedeutung. Es geht dabei weder um Friedens- noch um Gegnerforschung. Es geht um Forschung – und um Lehren und Lernen. Ist in diesem Zusammenhang vom Elfenbeinturm die Rede, darf dies nicht schrecken. Es gibt Elfenbeintürme, von denen aus man weit sieht.

Als Johann Georg Hamann sich wieder einmal von Kant missverstanden fühlte, mahnte er ihn: „Sie müssen mich fragen und nicht sich, wenn Sie mich verstehen wollen.“ Forschung über den Islam und das Lernen mit Gelehrten aus der muslimischen Welt gehören zusammen. Dies ist eine erkenntnisleitende Maxime – und nicht Ausdruck einer Wissenschaftspolitik des guten Willens. Naiv wäre dabei der Glaube, es reiche aus, Muslime zu fragen, um den Islam zu verstehen. Erkenntnisleitend in der Forschung über die islamische Welt ist vielmehr eine für die Geisteswissenschaften grundlegende Einsicht: Viele Phänomene können wir nur verstehen, wenn wir uns ihnen aus verschiedenen Perspektiven und mit dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen nähern. Die Kreuzung der Wahrnehmungen und Erfahrungen ist dabei von besonderer Bedeutung, weil sich die islamische Welt seit dem Eintritt des Westens in die Moderne nicht selten in selbstquälerischer und zugleich aggressiver Sensibilität als die missverstandene, weil unbefragte Kultur darstellt.

Auskunft über diese Kultur zu geben kann nicht länger ein Privileg der Islamwissenschaft sein. Sie ist eine unmögliche, weil überforderte Disziplin. Um dies zu erkennen, genügt die Vorstellung einer Christentumswissenschaft, der man die Bibelexegese ebenso zumuten würde wie die Ursachenforschung des Dreißigjährigen Krieges, eine Erklärung für den dramatischen Rückgang der Geburtenraten und die Deutung von Faust II. Entexotisierungen sind hier überfällig. Die Geschichte der muslimischen Länder gehört in das Curriculum einer allgemeinen Geschichtswissenschaft, ihre Dichtung ist Teil der Weltliteraturgeschichte.

[…] Wenn es darum geht, die Akzeptanz „westlicher Errungenschaften“ in der Welt – nicht nur in der Welt des Islam – zu befördern, kommt es entscheidend auf unsere Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstbescheidung an. Die Probleme der Moderne sind unübersehbar. Im Übrigen ist sie nicht unser Monopol; wir haben lernen müssen, dass es eine nichtwestliche Moderne gibt. Auf die Demokratie haben wir kein Patent; sie ist kein Gut, das wir nach Belieben exportieren können. Wenn wir den Universalitätsanspruch unserer Überzeugungen ernst nehmen, werden wir erkennen, dass sich Motive zum Übergang in die Moderne und Voraussetzungen zur Demokratie in allen Kulturen finden. Sie gilt es zu stärken.

Die Folge ist kein Kulturrelativismus. Enthusiasmus und Selbstkritik vereinen sich in einem unschätzbaren Gut: der Kultur der selbstbewussten Freiheit. In ihr zu leben und wissenschaftlich zu arbeiten ist ein Vorzug – und eine Verpflichtung.

Gekürzte Fassung des Vortragsmanuskripts für die Rede, die Wolf Lepenies gestern in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gehalten hat.