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Archiv-Artikel

Gesundes Volksempfinden 2006

Wer knickt ein vor dem Islam? Diese Frage eint Feuilleton, Bürger und Rechtsextreme. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islamismus bleibt dabei auf der Strecke

Der Islamismus ist lokalisierbar: Er besteht aus konkreten Netzwerken, Personen und Organisationen

„Warum knicken wir vor dem Islam ein?“ Das fragen die Bild-Zeitung, Sabine Christiansen und Poltergeist Henryk M. Broder. Und mit ihnen gemeinsam Hunderttausende im Land, die sich prinzipiell immer das fragen, was Bild, Sabine Christiansen und Henryk M. Broder vorfragen.

Die Beinahe-Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ hat ein neues Gesellschaftsspiel eröffnet: Wer ist Einknicker und wer leistet Widerstand? Widerstand gegen die islamische Landnahme in Deutschland. Gegen die Macht der Mullahs. Gegen eine muslimisch-patriarchale Männerwelt in Neukölln und anderswo. Einmal mehr wird die Frage ventiliert: Ist der Islam kompatibel mit der Moderne? Vereinbar mit dem westlichen way of life? Darf der bildungsferne, nur mäßig akkulturierte Muslim so einfach in unserer Mitte leben?

Stellvertretend für ein ganzes Milieu formulierte der Chef des Axel Springer Verlags, Mathias Döpfner, bereits im November 2004, wenige Tage nach der Ermordung des holländischen Regisseurs Theo van Gogh, die Schicksalsfrage: „Was muss noch passieren, bis die europäische Öffentlichkeit realisiert: Es herrscht eine Art Kreuzzug, eine besonders perfide, auf Zivilisten konzentrierte, gegen unsere freien, offenen, westlichen Gesellschaften gerichtete System-Attacke fanatisierter Muslime.“

Vieles ist seitdem passiert. Die linken Multi-Kulti-Träumer haben die Diskurshoheit verloren, die sie ohnehin nie hatten. Übernommen haben sie Widerständler von Format. Nennen wir zunächst den Welt-Autor und niederländischen Schriftsteller Leon de Winter. Er ist überzeugt, dass islamische Vorstellungen von Respekt, Ehre und Scham mit westlichen Werten nicht harmonieren können. Unermüdlich zieht de Winter mit einer Verve gegen die „falsche Toleranz“ der Europäer vom Leder, die mitunter den schmalen Grat, der den Warnruf von der rassistischen Hetze trennt, überschreitet.

Assistiert wird de Winter von Publizisten wie Hans-Peter Raddatz: Für ihn ist der Islam eine Gewaltreligion. „Die Muslime sind zur Anwendung von Gewalt nicht nur berechtigt, sondern umso mehr verpflichtet, je weiter sich die Geltung der Scharia ausbreitet.“ An anderer Stelle schreibt der Orientalist, die islamischen Kulturkolonien in Europa bildeten ein nahezu ungestörtes Reservoir potenzieller Gewalt. Dies alles sind Argumentationsmuster, die ein wenig abgewandelt modifiziert auch von Diskurstitanen wie Alice Schwarzer und Henryk M. Broder unters Volk gebracht werden. Allen Genannten gemeinsam ist die Überzeugung, dass die Unterscheidung zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als totalitärer Ideologie eine künstliche – oder zumindest äußerst problematisch – ist. Obgleich sie sich gerne in der Rolle der Aufklärer und einsamen Mahner sehen, artikulieren sie nichts anderes als das „gesunde Volksempfinden“ im Jahr 2006. Wer wie Broder heute noch mangelnden Widerstand gegenüber Islam und Islamismus beklagt, hat schlicht die Entwicklungen der letzten Jahre verschlafen.

Denn ihre Stichworte werden längst von rechtsgerichteten Organisationen wie dem in Weikersheim ansässigen „Bundesverband der Bürgerbewegungen zur Bewahrung von Demokratie, Heimat und Menschenrechten e. V.“ aufgegriffen. Ihr Widerstand gilt vor allem dem Bau neuer Moscheen, ihre größte Sorge der Fruchtbarkeit der Muslime. Auch die NPD, die lange (vergeblich) hoffte, gemeinsame antisemitische Sache mit Islamisten zu machen, hat ihre Zurückhaltung gegenüber der nach ihrer Auffassung „dem deutschen Wesen fremden“ Religion aufgegeben. Seit letztem Herbst organisiert sie in bundesdeutschen Städten Märsche durch „islamische Wohngebiete“: den nächsten am 4. November in Bremen-Gröpelingen.

Da entsteht ein bemerkenswertes Amalgam zwischen publizistischen Eliten, Rechtsextremen und gewöhnlichen Bürgern: Bereits im Mai 2006 veröffentlichte das Allensbach Institut eine Untersuchung. Sie ergab: 91 Prozent der Deutschen denken beim Stichwort Islam an die Benachteiligung von Frauen; 74 Prozent meinen, eine Moschee sollte nicht gebaut werden, wenn die Bevölkerung dagegen ist; 40 Prozent sind dafür, dass die Ausübung des islamischen Glaubens in Deutschland stark eingeschränkt werden sollte. Nur 25 Prozent glauben, dass es keinen Kampf der Kulturen gibt.

Ein ganzes Volk ist vereint im antiislamischen Widerstand. Viele LehrerInnen sehen in ihren arabischen und türkischen Schülern inzwischen keine Kinder mehr, sondern die Vorhut des Islamismus. Säkulare Deutsch-Türken werden von ihren Landsleuten zwangsmuslimisiert. Je ähnlicher die türkische und arabische Minderheit der Mehrheitsgesellschaft in Lebensführung, Wünschen und Werten wird, umso offener konstruiert die Mehrheitsgesellschaft anhand der Religion und ihr zugeschriebener Wesensmerkmale eine Grunddifferenz. Die Identität von Menschen wird über ein fehlendes Stück Vorhaut des Vaters definiert.

Henryk M. Broder und Alice Schwarzer warnen vorm Islam. Die NPD agitiert gegen Moscheebauten

Die Auseinandersetzung mit dem Islamismus ist auf den Hund gekommen. An Stelle der knallharten Recherche dominiert das kulturalistische Propagandageschwätz. Berichte über Selbstmordattentate in Israel, widerliche antisemitische Propagandafilme aus Syrien und gesteuerte Karikaturen-Proteste aus dem Nahen und Fernen Osten werden „irgendwie“ mit der muslimischen Minderheit in Deutschland verknüpft. Übersehen wird dabei geflissentlich, dass die Proteste deutscher Muslime gegen Mohammed-Karikaturen, gegen die Regensburger Rede des Papstes, gegen eine Aufführung von „Idomeneo“ mehr als verhalten waren.

Doch der Islamismus in Deutschland ist kein feuilletonistisches Großereignis, kein kulturalistisches Debattenfeld: Er ist konkret. Er besteht aus Organisationen, Akteuren, Treffpunkten, Publikationen und Netzwerken. Dies alles ist mit investigativer Recherche aufzudecken. Die Akteure sind ebenso beim Namen zu nennen wie ihre Kollaborateure aus den christlichen Kirchen, der Politik und Gesellschaft – das ist Widerstand. Nicht der Generalverdacht gegen Muslime und ihre Religion.

Auf dem mühsamen Feld der Recherche haben die Mahner der Nation bislang jedoch nichts vorzuweisen. Schlimmer noch: Keiner von ihnen sprang in den letzten Jahren etwa den Berliner Journalisten Ali Yildirim und Claudia Dantschke bei. Seit über zehn Jahren liefern die beiden mit die wichtigsten Erkenntnisse über die islamistische Szenerie in Deutschland: Ohne ihre Recherchen hätte es kein Verbot der radikalislamistischen Hizb ut Tahrir oder des antisemitischen Hetzblattes Vakit gegeben. Und seit über zehn Jahren sind sie und ihre Informanten Messerattacken, zermürbenden und kostspieligen Rechtsstreitigkeiten, wirtschaftlichen Sanktionen, Einschüchterungsversuchen und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Das ist der Öffentlichkeit bekannt, auch den Widerständlern. Nennenswerte finanzielle und damit auch moralische Unterstützung leistete keiner. Nur eine – die Gewerkschaft Ver.di. EBERHARD SEIDEL