: Vom Völkerrecht befreit
Die USA leisten einem atomaren Krieg und einem globalem Umweltdesaster Vorschub. So pointiert bilanziert Noam Chomsky die amerikanische Politik seit 1945 – und belegt seine These faktenreich
VON RUDOLF WALTHER
Der fast 80-jährige Intellektuelle Noam Chomsky gehört nicht nur zu den produktivsten, sondern auch zu den provokantesten Intellektuellen. Sein neues Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, denn es stellt so etwas wie ein Resümee dar – ein Buch, voll gepackt mit Fakten, Thesen, historischen Vergleichen und politischen Interpretationen. Nicht jeden zitierten Experten wird man umstandslos als solchen akzeptieren, aber aufs Ganze gesehen bietet Chomsky eine packende Darstellung der amerikanischen Politik nach 1945 und eine überzeugende Indizienkette dafür, dass sie propagandistisch „das Gute“ beschwört, „das Böse“ nicht vernichtet, aber die Übel und Gefahren vermehrt.
Die einfachsten Vorwürfe gegen Chomsky lauten, er vereinfache und er sei ein Verschwörungstheoretiker. Beides widerlegt er spielend durch die Herkunft und Dichte der Fakten, die er präsentiert und die nicht falsch werden, wenn er deren Deutung polemisch zuspitzt. Der seichteste Vorwurf gegen Chomsky lautet „Antiamerikanismus“, so als ob er pauschal „Amerika“ und nicht bloß die amerikanische Regierungspolitik und deren Werbeagenturen in Think-Tanks oder „Forschungsinstituten“ kritisieren würde. Im Übrigen läuft der Vorwurf des Antiamerikanismus nur auf die schon etwas ältere Regierungsweisheit hinaus, Regierungskritiker seien „vaterlandslose Gesellen.“
Chomskys Grundthese ist im Unterschied zu seiner Analyse, seinen Belegen und Vergleichen so kurz wie einfach: Zweierlei bedroht die Menschheit – ein atomarer Krieg und ein globales Umweltdesaster, und beidem leistet amerikanische Politik seit 1945 Vorschub. Was die USA zum Umweltdesaster beitragen, bedarf keiner Belege.
Auf die Achillesferse im Völkerrecht wies der amerikanische Richter Robert Jackson bereits 1946 in Nürnberg hin: „Wenn bestimmte vertragsverletzende Handlungen Verbrechen sind, sind sie immer Verbrechen, gleichgültig, ob die Vereinigten Staaten sie begehen oder ob Deutschland sie begeht.“ Genau daran hielt sich das Kriegsverbrechertribunal jedoch nicht.
Chomsky kritisiert, dass es die Luftkriegsführung gegen Zivilisten aus der Anklage ausklammerte, weil sonst auch Alliierte auf die Anklagebank geraten wären. Seither respektieren amerikanische Regierungen die Allgemeingültigkeit völkerrechtlicher Normen immer weniger und interpretieren vertragliche Verpflichtungen nur noch als politische Bekenntnisse mit situativ wechselnder Geltung.
Artikel 51 der UN-Charta bindet die Gewaltanwendung von Staaten gegen andere an die Zustimmung des Sicherheitsrates. Chomsky macht deutlich, dass bereits die Clinton-Doktrin von 1995 diese Norm ablehnt. Wenn „gescheiterte Staaten“ („failed states“) solche sind, die sich vom Völkerrecht verabschieden, gehören nach Chomsky auch die USA zu ihnen.
Die Clinton-Doktrin legitimiert „den einseitigen Einsatz von militärischen Mitteln“, um „den ungehinderten Zugang zu Schlüsselmärkten, Energievorräten und strategischen Ressourcen“ sicherzustellen. Die momentane Regierung erweiterte diese Doktrin 2002 durch die Präemptivschlagdoktrin, wonach es den USA erlaubt sei, „auf Ereignisse Einfluss zu nehmen, bevor Gefahren anwachsen und immer weniger beherrschbar werden“ (Donald Rumsfeld).
Nach dem Motto „illegal, aber legitim“ – so Richter Richard Goldstone von der Internationalen Kosovokommission – rechtfertigen seit 1999 nicht nur die USA einseitige militärische Präemptiv- und Strafschläge. Mittlerweile basteln Legionen von Zauberlehrlingen an amerikanischen und europäischen Instituten sowie regierungsnahe Agenturen daran, das Völkerrecht nach den wirtschaftlichen und politischen Imperativen des „Westens“ zu modernisieren, wie Chomsky darlegt. Die fantasievolle Beschwörung von Gefahren durch „Massenvernichtungswaffen“ und „Islamismus“ sowie die apokalyptische Überhöhung von „9/11“ zur welthistorischen Zäsur treiben die Priester der „West-Sekte“ um.
Mit diesem „neuen Denken“ (George W. Bush) wird nicht nur auf dem Gebiet des Kriegsvölkerrechts operiert. Der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von atomaren Waffen (5. 3. 1970) sieht Überprüfungen im Fünfjahresrhythmus vor. Er verpflichtet die Unterzeichnerstaaten dazu, keine Atomwaffen zu verbreiten, und dazu, diese abzurüsten (Art. VI.). Bei der Überprüfungskonferenz 2000 verpflichteten sich auch die USA zu 13 konkreten Abrüstungsmaßnahmen. Fünf Jahre später kündigte Bush diese Verpflichtung einseitig auf und machte Indien im Alleingang zum Partner für die nukleare Zusammenarbeit.
Gleichzeitig gerieten Nordkorea und Iran wegen ihrer Nuklearpolitik auf die Anklagebank. Für Chomsky ist das im Falle des Iran pikant, denn 1979 ermunterte der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger das Schah-Regime zur „Einführung der Atomkraft“ und bot an, die Ingenieure am Massachusetts Institute of Technology auszubilden. 25 Jahre später meint Kissinger, der Iran besitze genug Öl, um auf die Atomkraft verzichten zu können. Seit gut zwei Jahren läuft die gut geölte Propagandamaschinerie gegen das ungemütliche Mullah-Regime, das den Atomwaffensperrvertrag im Unterschied zu Israel unterschrieben hat, auf Hochtouren.
Nach der Präemptivschlagdoktrin der USA würde der Iran nur rational handeln, so Chomsky, wenn er nach Atomwaffen strebt. Denn das Risiko für den Iran, von den USA oder Israel mit konventionellen oder atomaren Waffen angegriffen zu werden, ist größer, wenn er keine Atomwaffen besitzt. Und auch das Risiko, angegriffen zu werden, ist größer als jenes, dass der Iran die USA oder Israel angreift: Ohne Atomwaffen wäre dies aussichtslos, mit Atomwaffen der sichere Selbstmord.
Chomsky versteht das nicht als ein Plädoyer für die atomare Bewaffnung, sondern will mit dem Horrorszenario nur demonstrieren, wie gefährlich und perspektivlos die amerikanische „Selbstbefreiung von zentralen Prinzipien des Völkerrechts“ geworden ist.
Noam Chomsky: „Der gescheiterte Staat“. Aus dem Amerikanischen von G. Gockel, B. Jendricke und T.Wollermann. Kunstmann Verlag, München 2006, 399 Seiten, 24,90 Euro