: Atomare Provokation
VON NICK REIMER
Deutschlands zweitgrößter Energiekonzern RWE hat gestern die Büchse der Pandora geöffnet: Im Bundesumweltministerium, im Bundeswirtschaftsministerium und im Bundeskanzleramt gingen Anträge auf Laufzeitverlängerung des ältesten deutschen AKW Biblis A ein. Der elfseitige Antrag zur „Übertragung von Elektrizitätsmengen gemäß Atomgesetz“ aus dem Jahr 2000 – der der taz vorliegt – hat zum Ziel, 30 Terawattstunden vom nie richtig gelaufenen AKW Mülheim-Kärlich sowie 30 Terrawattstunden des AKW Emsland auf Biblis A zu übertragen. Jan Zilius, Vorstandsvorsitzender der RWE Power: „Dadurch würde die Laufzeit von Block A bis etwa in die zweite Jahreshälfte 2011 verlängert werden.“ Der Antrag verschaffe „zeitlichen Spielraum für die Diskussion über das energiepolitische Konzept der Bundesrepublik“.
Damit gibt der Vorstandschef eine Begründung für den Zeitpunkt des Antrages: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am 9. Oktober zur nächsten Runde des Energiegipfels geladen. Vor dem ersten Energiegipfel Anfang April hatte die Kanzlerin beim Thema Atomkraft auf den Koalitionsvertrag verwiesen, in dem der Bestand des Atomausstiegsgesetzes festgeschrieben ist. Doch die vier großen Atomkonzerne RWE, Eon, Vattenfall und EnBW waren mit den Ergebnissen des Gipfels unzufrieden. Daher wurden seinerzeit drei Arbeitsgruppen gegründet: „Versorgungssicherheit“, „Internationale Politik“, „Forschung und Effizienz“. Das nächste Treffen soll nun die Ergebnisse beraten. Dabei spielt allerdings das Thema Atomkraft nur eine Nebenrolle.
Das, so die naheliegende Vermutung, wollen die „großen vier“ nun durch eine konzertierte Aktion ändern. „Mit Blick auf das in Entwicklung befindliche energiepolitische Konzept für die Bundesrepublik Deutschland halten wir es für falsch, vor Fertigstellung vollendete und irreversible Tatsachen zu schaffen – durch die vorzeitige Stilllegung von Kernkraftwerken“, sagte RWE-Power-Chef Zilius gestern. „Wir werden den Antrag im vierten Quartal stellen“, kündigte gestern ein Sprecher von Energie Baden-Württemberg (EnBW) an. Der EnBW-Reaktor Neckarwestheim I muss gemäß Atomkonsens 2009 vom Netz.
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) hat gestern erneut ausgeschlossen, an den festgeschriebenen Reststrom-Laufzeiten etwas zu ändern. Allerdings erklärte Gabriel, er werde den Antrag „nach Recht und Gesetz prüfen“. Welche Möglichkeiten hat er?
RWE beruft sich im Antrag auf § 7 Abs. 1d des Atomgesetzes. Dieser bezieht sich auf Mülheim-Kärlich: Nach dem Probebetrieb war der RWE-Reaktor wegen schwerer Fehler bei der Genehmigung per Gericht stillgelegt worden. RWE drohte daraufhin der Genehmigungsbehörde Rheinland-Pfalz mit einer milliardenschweren Schadensersatzklage. Um dem Bundesland dies zu ersparen, wurde RWE die großzügige Summe von 107,25 Terawattstunden zugestanden, die der Konzern von dem stillgelegten Reaktor auf andere übertragen darf. Davon will RWE nun Gebrauch machen. Allerdings ist der Passus im Gesetz mit einem Sternchen versehen: Dort sind jene AKWs verzeichnet, auf die die Menge tatsächlich übertragen werden darf. Isar 2 zum Beispiel oder das AKW Emsland. Biblis A ist nicht dabei.
Bleibt also § 7 Abs. 1b: Nach diesem kann von einem neuen AKW – etwa dem Ende der 80er-Jahre in Betrieb genommenen AKW Emsland – Restlaufzeit auf ein altes übertragen werden, wenn Bundeskanzlerin, Bundesumweltminister und Bundeswirtschaftsminister zustimmen. RWE hat deshalb den Antrag an die drei Ministerien verschickt. Wirtschaftsminster Glos warnte gestern schon einmal seinen federführenden Kabinettskollegen Gabriel: „Ich erwarte, dass wir uns zusammensetzen und vorbehaltlos über den Antrag beraten.“
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