: Auf dem Abenteuerspielplatz
Kritik der Kritik (11): Das Rezensionsfeuilleton gilt angeblich als überholt. In der Folge nun macht sich die Kunstkritik mit ihren Eventberichten immer mehr zur PR-Maschine für Sammler und Sponsoren. Was fehlt, ist nicht Distinktion, sondern Investigation
■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks
VON BRIGITTE WERNEBURG
Was Kunstkritik leisten soll, ist nicht schwer zu verstehen. Sie berichtet darüber, wie Künstler und Künstlerinnen heute arbeiten und welche Themen sie beschäftigen. Wie sieht die Gegenwartskunst aus? Wo wird sie gezeigt? Welche Werke, welche Künstler und welche Institutionen stehen im Zentrum eines breiteren Interesses? Warum? Wo findet sich die Theorie der Gegenwartskunst? Solche Fragen zur Kunstproduktion, ihrer Finanzierung, Vermittlung und Vermarktung, zu den Kunstinstitutionen und ihrer Verantwortung dem Künstler wie der Öffentlichkeit gegenüber, zu Kommentar und Kritik, interessieren die Berichterstattung.
Die Ausstellungsbesprechung ist für diese Zwecke eine sehr geeignete Form. Der Künstler, das Werk, die Institution, das öffentliche Interesse, das Angebot Kunst als „Fest des Denkens“ (Heidegger), als Anlass von theoretischen und gesellschaftskritischen Überlegungen wie ästhetischer Reflexion und Weltdeutung zu begreifen, all das kann hier zusammengeführt werden. Daher ist das kluge Referat in der Regel intellektuell aufregender als der brav abgefeuerte Schnellschuss zu etwelchen dräuenden Feuilletondebatten.
Doch längst ist es schon in der eigenen Zeitung Routine, das sogenannte Rezensionsfeuilleton als langweilig und überholt zu schmähen. Denn anders als die Debatte, das Porträt und das Interview mit ihrem Reigen prominenter Beiträger, ihren attraktiven Gesichtern und starken Meinungen, wartet die Besprechung lediglich mit Beschreibung und Erklärung auf. Das scheint zunächst nur die schon Interessierten zu interessieren – was die Sache gleich weitgehend delegitimiert. Wertschätzung gibt es dort, wo ein allgemeines Interesse vermutet wird. Daher ist die Filmkritik unangefochtene Königsdisziplin – kein Interesse an Kino? Undenkbar. Kino geht alle an.
Wen aber interessiert schon Kunst? Gar Gegenwartskunst? Angeblich kein Aas – wenn sie nicht gerade Protest erregt und für Krawall und Skandal sorgt. Bekanntlich ist es ja eine eingeborene Eigenart des Dings, genannt „moderne“ oder „zeitgenössische Kunst“, für Ärger und Empörung zu sorgen. Das Argument übersieht, dass zeitgenössische Kunst bloß dort Anstoß erregt, wo Tugendwächter, Politisch Korrekte, Fundamentalisten, Nationalisten oder eine klerikale Orthodoxie die Definitionsmacht über gesellschaftliche und politische Interessen und Freiheiten beanspruchen. Weil aber Streit noch immer als das Zeichen schlechthin ihrer Relevanz gilt, ist sie gleich wieder verdächtig, wo sie unbeanstandet bleibt, womöglich geliebt wird.
Ganz unschuldig ist die Kunst daran nicht. Kokettiert sie doch mit Schock, Provokation und Agitation auch da, wo sie nichts weiter als Pop-Repertoire sind. Über Jonathan Meese, Christoph Schlingensief, Jason Rhoades oder John Bock ist leicht zu berichten. Sie sind immer eine Homestory wert, was Autor wie Leser die Mühe erspart, sich mit ihrem Werk auseinanderzusetzen. Das eigentliche Meese’sche Kunstwerk stellt seine symbiotische Beziehung zur Mutter dar, das erfuhr die Öffentlichkeit über Wochen hinweg pünktlich bis zu Beginn seiner großen Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, über die zu berichten sich danach erübrigte. Seine Performance- und Installationskunst wie die seiner Kollegen folgt perfekt den Gesetzen der Medienkultur. Es gibt Stars und ihre Fans, eine Konstellation, die immer einen Plot liefert. Ihre Kunst ist grobschlächtig, laut, pornografisch, was sich jederzeit als politisch, zumindest als kritisch verkaufen lässt und so eine Berichterstattung bemäntelt, die Personenkult und Fantum huldigt. Dazu sind die Auftritte der Herren verwirrend, mithin ermüdend genug, um niemals Gefahr zu laufen, im Mainstream zu enden. Ihre Kunst hat ihre echten Momente; ihre Wurzeln bei Beuys, dem autoritären Wiener Aktionismus oder der Street Art, okay, was soll’s? Das human interest liegt eben in der Einsamkeit des sonderbaren Jungen, der nicht dazu gehört und sich nun seinen Abenteuerspielplatz selber baut.
Den genau sucht nun auch eine Klientel reicher, alter, weißer Männer, und findet ihn in der Gegenwartskunst generell. Sie gibt ihr endlich die Freiheit, ihr manchmal hart erworbenes, immer aber hart verteidigtes Geld ganz ungeniert durch den Ofen zu jagen und sich ausgerechnet dabei auch noch mit Ruhm und Ehre zu bekleckern. Natürlich heißt sammeln nicht per se verlieren. Es heißt auch spekulieren, und mit gutem Timing gibt es dann noch mehr von dem schönen Geld. Auch das macht die Kunst zum Abenteuerspielplatz, neben der Verheißung auf repräsentative Verausgabung und der Konkurrenzlust bei der Jagd auf die heißeste Ware. Hübscherweise hat keiner die Nase wirklich vorn, weil sich alle auf die gleichen Marken geeinigt haben. Und wenn der eine Sammler dem anderen das Förmchen klaut, dann holt der Galerist schon das nächste aus dem Sortiment.
Es erleichtert das Geschäft, dass Kunst sich nicht über ihre massenhafte Distribution finanziert wie Literatur, Film und Musik. Oft reichen zehn Leute, damit ein zeitgenössischer Künstler schon in jungen Jahren ein ansehnliches Vermögen anhäuft. Kunst stützt sich weitgehend auf einen kleinen elitären Vermittler- und Käuferkreis. Dennoch greifen die Agenten des Kunstmarkts, die Berater und Galeristen vermehrt auf das Instrumentarium der Kulturindustrie zurück wie man es aus der Musik-, Mode- und Filmbranche kennt: Der Journalismus wird vom Marketing umstellt, das ihm unaufhörlich ein Highlight nach dem anderen auf den Schreibtisch stapelt. Wer kann es noch wagen eine Monate im voraus über alle Medienkanäle gehypte Blockbustershow wie „The Guggenheim Collection“ in Bonn zu ignorieren? Schließlich bürgt sie für gesicherte Aufmerksamkeit und verschafft mancher Zeitung noch ein Zusatzgeschäft wie die Verlagsbeilage der Süddeutschen zeigt.
Der Imperativ des Marketing bleibt nicht folgenlos. Zunehmend sieht die Presse nur noch sich selbst. Sie fragt nicht mehr, was die Kunst, sondern was die Konkurrenz macht. Obwohl sie weder auf 1.204 Leinwänden laufen, noch nach drei Tagen abgesetzt werden, falls der Zuschauerrun ausbleibt, werden Ausstellungseröffnungen inzwischen wie Filmstarts behandelt. Vorabgeschichten häufen sich. Jeder muss dem anderen zuvorkommen, selbst im Pool der eingeladenen, embedded journalists, ist immer einer, der sich klammheimlich vom Acker macht, um als erster seinen Bericht zu senden. Exklusiv zugespielte Einladungen zu zeitlich gestaffelten Vorabführungen durch anstehende Ausstellungen – die drei bis vier ganz wichtigen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen zuerst und dann wohlsortiert der Rest – sind inzwischen gang und gäbe. Und falls es tatsächlich mal zum Streit kommt, geht es nicht um den umstrittenen Gegenstand, sondern um die Haltung der Konkurrenz. Gegen sie gilt es sich zu positionieren, Argumente dafür werden sich schon finden.
Der flotte freie Essay zum Kunstmarktboom kommt zwar als Aufklärung daher, ist aber doch nur Teil der PR und führt nahtlos in das eigentlich wichtige Gebiet der Kunstvermittlung: der Leute-Seite von Gala, Bunte, Architectural Digest oder britischer Vogue. (Die vor zehn Jahren auch noch mehr zu bieten hatte und lange, lesenswerte Reportagen zur Gegenwartskunst ins Blatt hob.) Das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, geht offensichtlich nicht. Wo Höchstpreise oder der Sammler und seine Partys das Ereignis sind, bleibt kein Raum mehr für die Sammlung, die nur noch Mittel zum Zweck scheint. (Was selbst für viele Sammler gilt, die öffentlich erklären, so ihren Namen aufpolieren zu wollen.)
Was also soll man tun? Die Leute, die im Privatjet zur Art Basel/Miami einfliegen, und die Firmen, die die Messe sponsern, mögen den spektakulären Teil des Kunstdiskurses beschlagnahmt haben. Der wesentliche Teil ist das nicht. Hier irrt die Kritik am Rezensionsfeuilleton. Noch immer ist in den westlichen Demokratien der bedeutendste Kunstmäzen die Öffentlichkeit. Sie investiert in Museen, Universitäten, Bibliotheken und Forschung, in Ausbildung, Förderung, Ausstellung und Dokumentation. Aus diesem Grund hat die gute Kunstrezension und Ausstellungsbesprechung ihr Surplus nicht im Klatsch, der Debatte oder Meinung, sondern in der Investigation. Dank der Rezension in der Zeit (keine Verlagsbeilage) erfährt die Öffentlichkeit, wie die Telekom daran verdienen wird, falls „The Guggenheim Collection“ in Bonn Gewinn erwirtschaften sollte (oder Steuern sparen wird, falls ein Verlust abzuschreiben ist). Das also nennt ein börsennotiertes Unternehmen heute Sponsoring: Die aus Steuermitteln finanzierte Infrastruktur eines staatliches Museum für sich als Geldquelle zu entdecken. Nur peinlich?
Nicht die Berichterstattung der Lokal- oder der Wirtschaftsredaktion wie zu vermuten wäre, nein, die des Kunstkritikers der Los Angeles Times, rief den Staatsanwalt aufs Tapet, der nun die Selbstbereicherung und die Schmugeschäfte der Leitungsebene des Getty Center untersucht. Für diesen Schritt reicht das tax payer money alle mal aus, das selbst in den USA sämtliches privates Engagement subventionieren muss, entgegen dem Mythos, das dortige Kunst- und Kulturleben verdanke sich reinem Mäzenatentum. Journalismus, auch im Kunstbereich, heißt noch immer Öffentlichkeit herzustellen, gerade dort, wo dieser Prozess unterlaufen werden soll – und de facto zunehmend unterlaufen wird.