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Archiv-Artikel

Der letzte Bürger der Bundesrepublik

Das Zeitalter der Extreme steckte Joachim Fest noch in den Knochen und in den Fingerspitzen

VON ALEXANDER CAMMANN

In einer melancholischen Anwandlung meinte der scharfzüngige Publizist Johannes Gross kurz vor seinem Tod 1999, er werde schon bald „vom Maul des Vergessens geschnappt“ werden. Sein Bruder im Geiste Joachim Fest hat diese Bemerkung in seinem biografischen Porträtband „Begegnungen“ (2004) überliefert. Jene pessimistische Haltung prägte stets auch das Wirken von Joachim Fest – wobei der von ihm gerne zur Schau gestellten Skepsis ein nicht unbeträchtliches Maß an Koketterie innewohnte. Fest starb am Montagabend im Alter von 79 Jahren in seinem Haus in Kronberg (Taunus).

Die Republik hat mit ihm ihren einflussreichsten konservativen Intellektuellen verloren, der zugleich wie kein Zweiter deutsche Bürgerlichkeit nach 1945 verkörperte. 1926 wurde er in Berlin-Karlshorst als Sohn eines katholischen Oberschulrats geboren, der 1933 von den Nazis entlassen wurde. Fests Vater hatte als Politiker der Zentrumspartei und Führungsmitglied des republiktreuen Reichsbanner-Verbandes den Aufstieg der NSDAP bekämpft. Das kompromisslose, antinazistische Klima innerhalb der siebenköpfigen Familie, die plötzlich mittellos am Rand stand, formte den jungen Joachim: Dem Sechsjährigen zeigte der Vater 1933 den brennenden Reichstag. Im Herbst 1944 entging der Soldat Fest nach einer Denunziation nur mit Glück dem Kriegsgericht.

Die existenzielle Bedrohungserfahrung teilte er mit seinen kurzzeitig in NS-Gefängnissen inhaftierten Generationsgenossen Ralf Dahrendorf und Wolf Jobst Siedler. „Unsere Väter haben uns um den Pubertätskonflikt betrogen“, bemerkte Fest einmal ironisch gegenüber Dahrendorf, dessen Vater sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und später im Widerstand war. „Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend“ lautet denn auch der selbstbewusste Titel des von Fest noch fertiggestellten autobiografischen Rückblicks, der in diesen Tagen bei Rowohlt, dem Verlag seines Sohnes Alexander, erscheint.

Auf diese Weise früh antitotalitär und nonkonform geimpft, begann Joachim Fest nach 1945 seinen bundesrepublikanischen Lebensweg. Ein breit angelegtes, offenbar recht zielloses Studium diverser geistesgeschichtlicher Fächer schloss er nicht ab. Kurzzeitig saß er für die Neuköllner CDU – die er später wieder verließ – im Berliner Abgeordnetenhaus. Seine eigentliche Bestimmung fand er dann jedoch rasch im Journalismus. Fest startete seine Karriere Anfang der 50er-Jahre beim Berliner RIAS. Das geistige Umfeld von Melvin Laskys Zeitschrift Der Monat im Westteil der Stadt beeindruckte ihn, ebenso der intellektuelle Antikommunismus Sebastian Haffners. 1963 wurde er Chefredakteur des NDR in Hamburg, wo er von Eugen Kogon die Leitung des Fernsehmagazins „Panorama“ übernahm. Als der unabhängige Konservative Fest 1968 abgelöst wurde, demonstrierte die radikale Linke gegen diese parteipolitische Einflussnahme: Ulrike Meinhof, Peter Rühmkorf und der junge Stefan Aust skandierten vor dem Funkhaus für Fest – eine pittoreske Szene aus dem Bilderbogen der alten Bundesrepublik. In den „Begegnungen“ widmete er, bei aller Kritik nachhaltig fasziniert, der RAF-Terroristin Meinhof eine bemerkenswert einfühlsame Skizze.

Für diesen „Metabürger“ (Durs Grünbein) waren die Extreme zeitlebens von eigentümlicher Anziehung. Nach seiner NDR-Zeit arbeitete er mehr als vier Jahre an seiner monumentalen Hitler-Biografie, die 1973 erschien und bis heute über 800.000 Käufer fand. Es war und bleibt umstritten, ob es sich bei dem Werk um „tacitäische Geschichtsschreibung“ (wiederum Grünbein) oder um eine Stilisierung des Bösen handelt, die durch die Konzentration auf Hitler ahistorisch die Entlastung der Deutschen betreibe.

Diese letztere, kritische Sicht bleibt jedoch an der Oberfläche, biografisch ohnehin leicht zu widerlegen. Fests obsessive Beschäftigung mit der braunen Diktatur in zahlreichen Büchern und Essays folgte keiner Exkulpationsstrategie, sondern ähnelte vielmehr einem Immunisierungsprogramm für das deutsche Bürgertum: die Vergegenwärtigung Hitlers als immerwährende Mahnung, vor solchen Gegnern nicht zu versagen. Im Falle Albert Speers allerdings erlag der schwer zu betörende Fest einem besonders versierten Verführer. An dieser zum Verbrecher mutierten Künstlerseele, der er bei der Abfassung ihrer Erinnerungen half und deren Biografie er Jahrzehnte später schrieb, interessierte ihn die Täterpsychologie stärker als die Frage nach Speers Kenntnis vom und Mitschuld am Holocaust. Andere enttarnten die Lügengebäude von Hitlers Architekt.

Nach Berlin und Hamburg schließlich Frankfurt: 1973 wurde Joachim Fest der für das Feuilleton verantwortliche Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auf diesem exponierten Posten im Olymp des bürgerlichen Deutschland konnte er nunmehr seine Eigenschaften ideal zur Geltung bringen: stilistische Meisterschaft, ausgeprägte musische Neigungen, intellektuelle Neugier, machtbewusste Kühle, politische Gesinnung, konservative Haltung, aristokratische Erscheinung. Ein Dirigent hatte sein Orchester gefunden, inklusive Erster Geigen. Er holte Marcel Reich-Ranicki als Leiter des Literaturteils in die Redaktion, ebenso dessen (und seinen) Nachfolger Frank Schirrmacher. Nach Fests Ausscheiden 1993 sollte es zu tiefen öffentlichen Zerwürfnissen mit beiden kommen. Viele deutsche Feuilletonisten – von einer älteren FAZ-Kollegin süffisant „Fests Junggenies“ genannt – lernten in den Achtzigerjahren unter Fests Ägide, bevor sie in der Ära Schirrmacher zu den überregionalen Konkurrenzzeitungen abwanderten.

Fest hatte immensen Anteil an der Politisierung und gleichzeitigen Aufwertung des Feuilletons in Deutschland. Zwei Jahrzehnte prägte er via FAZ maßgeblich die geistigen Debatten hierzulande. Der „Historikerstreit“ 1986 über die Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus ist das bekannteste Beispiel. Er entzündete sich an Ernst Noltes Aufsatz in Fests Feuilleton, den daraufhin Jürgen Habermas in der Zeit attackierte. Heute kann man auch in der liberalen Hamburger Wochenzeitung lesen, dass „eine Prise Nolte nicht schaden“ könne (Götz Aly). Dass 20 Jahre danach das Verständnis für Noltes Thesen in der Öffentlichkeit gewachsen ist, dürfte dem damaligen Verlierer Fest späte Genugtuung bereitet haben.

„Den Muff von 1.000 Jahren hatten die 68er in ihren Jeans“: In seiner affektgeladenen Abneigung gegen die deutsche Linke hat sich Joachim Fest nie Zügel angelegt. Seine geistigen Antipoden waren deren Mentoren Adorno, Horkheimer und Habermas. Noch seine Angriffe der vergangenen Wochen galten dem Gegner und Generationsgenossen Günter Grass. Für Fest stand nach 1945 der Feind vorwiegend links; mit schneidenden Sätzen stürzte er sich durchaus lustvoll in die vordersten Frontlinien dieser Schlacht – bis zuletzt. Das Zeitalter der Extreme steckte Fest noch „in den Knochen und in den Fingerspitzen“, wie der greise Allan Bullock, Hitler-Biograf auch er, einmal über sich selbst gesagt hat. Für utopische Gestimmtheiten hatte Fest daher nicht nur kein Verständnis, sondern empfand sie als Bedrohung.

Das verband ihn mit einigen, die wie er der legendären „skeptischen Generation“ angehörten. Glücklicherweise waren sie alle – ob links oder rechts – jedoch nicht zu skeptisch, um die Bundesrepublik durch einen immensen intellektuellen Gestaltungswillen zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Fests Geburtsjahrgang 1926 eint Namen, ohne die das Land anders aussähe: zum Beispiel sein langjähriger Freund und Verleger Wolf Jobst Siedler, der Komponist Hans Werner Henze, der Regisseur Peter Zadek, der Schriftsteller Siegfried Lenz, der Politiker Hans-Jochen Vogel, die Dichterin Ingeborg Bachmann aus dem österreichischen Klagenfurt. Hier wirkte, jenseits aller politischen und persönlichen Gegensätzlichkeiten, ein unterirdisches Kraftfeld.

Mit Joachim Fest stirbt erneut ein Stück von dieser alten bundesrepublikanischen Welt. In seiner machtvollen Wirkung auf die Innenausstattung der zweiten deutschen Demokratie und deren geistige Gestalt lässt sich der Konservative Fest allenfalls mit den Liberalen Marion Gräfin Dönhoff und Rudolf Augstein vergleichen, dessen Trauerrede er im November 2002 hielt. Auch wenn er dem Diktum eines Freundes, des Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger, der Tod sei die „tiefste vorstellbare Kränkung“, gelegentlich zustimmte: Joachim Fest, der letzte Bürger, hatte allen Grund zu der tröstlichen Annahme, dem Maul des Vergessens zu entgehen.