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Archiv-Artikel

Filetstücke für den Weltmarkt

Der europäische Kunde ist verunsichert. Soll er nach Dokumentarfilmen wie „Darwins Alptraum“ noch Produkte aus Afrika kaufen?

VON ROGER PELTZER

In „Darwins Alptraum“, dem vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm von Hubert Sauper, beobachtet die Kamera aus nächster Nähe, wie Maden durch die Abfälle einer Fischfabrik in Mwanza, einer Stadt am Viktoriasee, krabbeln. Die Fischabfälle, berichtet der Film, werden von hungrigen Bewohnern der ostafrikanischen Stadt gegessen. Parallel dazu präsentiert ein Manager dieser Fabrik stolz die einwandfreien hygienischen Bedingungen, unter denen die Viktoriabarschfilets für den europäischen Konsumenten aufbereitet werden. Dies wird als überzeugende Anklage von Weltmarktstrukturen präsentiert, die die Mägen satter Europäer mit Qualitätsprodukten füllen, während sich die Tansanier mit Abfällen begnügen müssen.

Dass die Handelsbeziehungen zwischen Nord und Süd systematisch Armut und Elend befördern, ist eine Kernaussage schon des Sozialkundeunterrichts an deutschen Schulen. Nicht zuletzt deshalb dürfte Attac auch in Zukunft wenig Rekrutierungsprobleme haben. Und Greenpeace sorgt mit Sponsoring und Medienrummel dafür, dass Dokumentarfilme über tatsächliche und vermeintliche Globalisierungsskandale die verbreitete Überzeugung bestärken, wir alle trügen mit dem Konsum von Waren aus der sogenannten Dritten Welt zu deren Ausbeutung bei.

Tatsächlich beinhaltet der 2004 gedrehte und jüngst auf Arte gezeigte Film „Darwins Alptraum“ nur wenige verwertbare Informationen zur wirtschaftlichen und ökologischen Bedeutung des Viktoriabarschs. Dieser Fisch wurde von den Engländern vor fünfzig Jahren im Viktoriasee ausgesetzt, weil sie etwas „Handfestes“ zum Angeln haben wollten. Die langfristigen Folgen hiervon sind zwiespältig und ökologisch problematisch – aber wirtschaftlich für die Anrainerstaaten des Viktoriasees durchaus vielversprechend.

Es stimmt: Der heimische Fischarten fressende Viktoriabarsch hat sich rasch verbreitet und die Vorkommen des traditionell im Viktoriasee beheimateten Buntbarschs deutlich verringert. Zugleich hat der Viktoriabarsch – nicht zuletzt, weil „Weißfisch“ aus der Hochseefischerei knapper wird – in den letzten zehn Jahren einen Siegeszug durch die europäische Küche angetreten. Mittlerweile exportieren Tansania, Uganda und Kenia pro Jahr 60.000 Tonnen Viktoriabarsch in die EU und erlösen damit zirka 200 Millionen Euro. In Tansania ist der Fisch nach Tourismus und Gold die wichtigste Devisenquelle geworden, in Uganda folgt der Fischexport unmittelbar dem Kaffeeexport. Angesichts des zunehmenden Fangs des Viktoriabarschs konzentrieren sich die Behörden der Anrainerstaaten heute auf Maßnahmen, die eine Überfischung des Sees verhindern sollen. Da Tansania den Einsatz von Trawlern (Schleppnetzfischern) verboten hat, konnten viele tausend kleine Fischer eine Existenz aufbauen. Die Fischfabriken am Viktoriasee müssen mit europäischen Hygienestandards arbeiten, und die in der Filetierung arbeitenden Frauen und Männer erhalten durchweg eine Entlohnung, die deutlich über dem Durchschnittseinkommen ihres Landes liegt. Die Anrainerstaaten, aber auch die Kommunen am See partizipieren an der Wertschöpfung gleich dreifach: So zahlen die Fischer eine kommunale Steuer pro Kilogramm Fangfisch, und die Fischfabriken müssen Export- und Gewinnsteuern abführen. Zugleich hat Tansania den Export der lokalen, traditionellen Fischarten, die sich auch dank des verstärkten Fangs des Viktoriabarschs wieder ausbreiten, verboten, sodass Fisch weiter wichtiger Bestandteil der Ernährung der am See lebenden Bevölkerung ist.

Nun setzt sich sozialer Fortschritt in den seltensten Fällen linear durch: Bis jetzt sind die meisten Fischer schlecht organisiert, was ihre Verhandlungsposition gegenüber den Fischaufkäufern schwächt und den Kauf von Booten zu günstigen Bedingungen erschwert. Die relativ einfache Verfügbarkeit von Einkommen – fast jede nächtliche Ausfahrt zahlt sich unmittelbar in Bargeld aus – begünstigt es, Teile des Verdienstes umgehend für allerlei Vergnügen auszugeben, statt Ersparnisse für die Familie zurückzulegen und zu investieren.

Dennoch stellt der Viktoriabarsch für die Anrainerstaaten eine große Chance dar, wirtschaftliche Entwicklung aus eigener Kraft zu gestalten. Insbesondere Tansania bemüht sich, die wirtschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen am Viktoriasee so zu gestalten, dass diese Chance nachhaltig genutzt werden kann. Beim Viktoriabarsch handelt es sich im Unterschied zu Gold immerhin um eine erneuerbare Ressource.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Gemüse- und Blumenexport aus Kenia. Wenige europäische Konsumenten wissen, dass praktisch jede zweite Rose, die sie kaufen, aus Kenia bzw. Ostafrika stammt. Gerade in den Hochlagen, in denen auch der Arabica-Kaffee wächst, sind die klimatischen Bedingungen für die Rosenzucht ideal. Anders als in Europa brauchen die durchweg modernen Gewächshäuser das ganze Jahr über keinerlei Energiezufuhr. So verbraucht eine Rose, die in Kenia gezüchtet und per Luftfracht nach Europa transportiert wurde, unter Einrechnung des Flugbenzins 50 Prozent weniger Energie, als in einem holländischen Gewächshaus notwendig wären. Deshalb sind in den letzten Jahren in Ostafrika viele hunderte von Hektar neuer Gewächshäuser entstanden, während holländische Pflanzer ihr Geschäft einstellen oder nach Kenia verlagern mussten. Die EU hat diese Entwicklung gefördert: Importe von Gemüse und Blumen aus Kenia sind zollfrei, was zeigt, dass sich Europa nicht immer abschottet. Heute erzielt Kenias Gartenbausektor Exporterlöse von über 400 Millionen Euro pro Jahr. Und da der Gartenbau sehr arbeitsintensiv ist, hat er in den letzten 15 Jahren enorm zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Kenia beigetragen: Knapp 10 Prozent der Bevölkerung leben heute direkt oder indirekt vom Gartenbau.

Ist es moralisch zulässig, Rosen aus Kenia zu schenken oder Prinzessbohnen aus Afrika zu konsumieren? Wer aufmerksam Medienberichte verfolgt, wird auch in diesem Fall allerorten die Spuren der Globalisierungskritik finden. Geht der Anbau von Blumen nicht zu Lasten der Versorgung der einheimischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln? Was ist mit den Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen in den Gewächshäusern, die laufend mit Pestiziden umgehen müssen und im Vergleich zu Europäern sehr wenig verdienen? Und verbraucht der Gartenbau nicht wertvolles Wasser – in einem Land, das unter Wasserknappheit leidet?

Auch wenn es der vermeintlichen Gewissheit eines Großteils derjenigen, die sich globalisierungskritisch mit den Verhältnissen nicht nur in Afrika befassen, widerspricht: Die Produktion einheimischer Nahrungsmittel in Afrika wird durch den Anbau von traditionellen und nichttraditionellen landwirtschaftlichen Produkten für den Export, den sogenannten Cash Crops, nur sehr selten negativ beeinflusst. Und der exportorientierte Gartenbau in Kenia, der wenig Fläche beansprucht, konkurriert schon gar nicht mit dem Anbau traditioneller Grundnahrungsmittel um Boden. Viele Gewächshäuser befinden sich aus klimatischen Gründen in Kaffeeplantagen. Real sind dagegen die ökologischen Probleme, die mit Wasserverbrauch und Abwässern verbunden sind. Allerdings stellen sich immer mehr Blumenfarmen – auch in Erwartung der Einführung eines Wasserpfennigs – auf das Recycling und das Sammeln von Regenwasser um. Die Abwasserbehandlung breitet sich aus. Und was den Umgang mit Pestiziden angeht, so unterscheiden sich die Arbeitsvorschriften in modern geführten Blumenbetrieben in Kenia nicht sehr von denen in Europa – von adäquater Schutzkleidung über regelmäßige Blutuntersuchungen bis hin zu unabhängigen, unangekündigten Kontrollen der Schutzbestimmungen. Die Arbeit in den Blumenfarmen ist sicher anstrengend und nach europäischem Maßstab sehr schlecht bezahlt. Dennoch sind die Jobs gesucht, ermöglichen sie den meisten Frauen gegenüber allen zur Verfügung stehenden Alternativen doch ein regelmäßiges Einkommen und eine Mindestabsicherung. Immer mehr Farmen bieten, unterstützt durch europäische Blumenlabels wie „Max Havelar“, kostenlose Kindertagesstätten und andere Sozialleistungen an.

So ist es nicht verwunderlich, dass lokale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie etwa das Green Belt Mouvement die Blumenindustrie erstaunlich positiv beurteilen. Deren Vertreter weisen darauf hin, dass die modern geführten Blumenfarmen mit Pestiziden wesentlich verantwortlicher und kontrollierter umgehen als der durchschnittliche kenianische Bauer, der zum Beispiel Mais für den heimischen Markt anbaut. Und wenn man als europäischer Investor andeutet, dass man eine geplante Investition aus moralischen oder ökologischen Bedenken unterlassen könnte, dann sind sich afrikanische Regierungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen bei allen diagnostizierten, zum Teil gravierenden Defiziten sehr einig: Der Ausbau einer exportorientierten Agrarindustrie wird eben nicht wegen der Schaffung stärkerer Abhängigkeit vom Weltmarkt verurteilt. Er ist aus Sicht der Afrikaner vielmehr ein Mittel, Entwicklung und sozialen Fortschritt aus eigener Kraft zu gestalten und nicht mehr vom Tropf humanitärer Hilfe abhängig zu sein. In der Tat entwickelt sich in Kenia um den Gartenbau ein ganzes Geflecht vor- und nachgelagerter Aktivitäten. Das fängt bei den agrartechnischen Fach- und Hochschulen an, geht über die Züchtung neuer Sorten und erfasst Zulieferindustrien wie die lokale Herstellung von Wattejacken für die Arbeit in den Kühlhäusern oder von Isolier- und Verpackungsmaterial.

Gewiss haben die Diskussionen über ungerechte Strukturen im Welthandel den Anstoß zu vielen positiven Entwicklungen gegeben, ebenso wie die Aufdeckung von Umweltskandalen, die die Weltmarktintegration vieler Entwicklungsländer begleiteten. Heute gibt es kaum noch ein größeres Entwicklungsvorhaben, dessen soziale und ökologische Auswirkungen nicht zumindest intensiv fachlich und öffentlich diskutiert werden. Auch kümmern sich Handelsunternehmen in Europa, den USA und Japan zunehmend um die ökologischen und sozialen Bedingungen, unter denen die Waren hergestellt werden, die sie vermarkten. Diese Entwicklungen zu konsolidieren und zu verstärken wird weiter eine wichtige Aufgabe von NGOs bleiben.

Dennoch ist es eine Illusion, zu glauben, man könnte Entwicklung und Modernisierung ohne Risiken und Verwerfungen haben. Wer angesichts dieser Tatsache und mit einem romantisierenden Blick auf die aktuellen Verhältnisse meint, am besten sei es, wenn die Afrikaner den Export von Viktoriabarsch oder Rosen einstellten, der verkennt die Dramatik der Lage, die sich nicht zuletzt in den Strömen der Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika manifestiert. Gerade die Weiterentwicklung ressourcenbasierter Wirtschaftszweige bietet für viele afrikanische Staaten die Chance, breit gestreut Arbeitsplätze, Einkommen und Steueraufkommen zu schaffen. Wenn Globalisierungskritik nur auf die negativen Aspekte solcher Prozesse abstellt, läuft sie Gefahr, die Afrikaner vom Zufluss von Kapital und Nachfrage abzuschneiden. Investoren und der Einzelhandel sind nämlich durchaus scheue Wesen, die mittlerweile Imagerisiken ebenso zu vermeiden trachten wie niedrige Renditen.

Noch kritischer ist die Tatsache zu sehen, dass Globalisierungskritik Gefahr läuft, Afrikaner implizit für strukturell unfähig zu erklären, die Risiken von Modernisierungsprozessen adäquat zu managen. So sucht man denn auch in „Darwins Alptraum“ vergeblich ein Interview mit einem hohen Beamten des tansanischen Fischereiministeriums, der sachkundig hätte darlegen können, wie die Regierung und der Fischereisektor des Landes die benannten Probleme angehen. Hat man den Afrikanern einmal die Fähigkeit abgesprochen, eigenständig lebensfähige und nachhaltige Wirtschaftszweige aufzubauen, und hat man dies ausführlich in erschreckenden Bildern geschildert, kann man auf Konzerten umso intensiver für „Life Aid“ für Afrika trommeln.

ROGER PELTZER, 53, arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren in der Finanzierung von Projekten und Unternehmen in Subsahara-Afrika