: Der V-Effekt als Sicherheitsmaßnahme
Wie Günter Grass die wahnhafte Männlichkeitshuberei seiner jungen Jahre in der Novelle „Katz und Maus“ aus dem Jahr 1961 fiktional verschlüsselt hat
von MARKUS JOCH
Interessanter noch als Günter Grass’ spätes SS-Geständnis war das Muster der öffentlichen Reaktionen. Verächter wie Verteidiger bezogen die Frage, ob der Autor als moralische Instanz erledigt sei, fast nur auf den Redner, den Publizisten, den Verfasser offener Briefe, nicht aber auf den Erzähler. Die in der taz angestellte Überlegung (14. 8.), dass man vielleicht auch die Danziger Trilogie neu bewerten müsse, zählt zu den Ausnahmen; die Aufregung über den Literaturpolitiker scheint das Nachdenken über sein literarisches Werk eher zu blockieren.
Das ist bedauerlich, denn es lohnt sich, aktuelle Auskünfte des Autors in Beziehung zu „Katz und Maus“ zu setzen, der Novelle von 1961. Die Verdrängung seines Makels, erzählte Grass der FAZ, erlaubte er sich, weil er glaubte, „mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben“. Zudem räumte er wiederholt ein, als Heranwachsender auf den Endsieg bis zuletzt gehofft zu haben. Seine Offenheit lizenzierte erst die zahllosen Reden wider das Vergessen – und war doch eine Form des Verbergens. Ungesagt blieb bis zur späten Offenbarung, dass die Verfallenheit ans Nazi-Pathos so weit ging, dass der 17-Jährige an einer „Eliteeinheit“ Geschmack fand, „die immer dort eingesetzt wurde, wo es brenzlig war“. Es war der kleine, kitzlige Überhang an Nicht-Eingestandenem, die wahnhafte Männlichkeitshuberei, die Grass zu schaffen gemacht haben dürfte. Sie direkt zu thematisieren vermied er. In „Katz und Maus“ aber, dem zweiten Teil der Danziger Trilogie, hat er sie fiktional verschlüsselt.
Joachim Mahlke, in „Katz und Maus“ eine Art Held, erinnert an den jungen Grass, wie wir ihn dieser Tage kennen lernen. Auch Mahlke meldet sich freiwillig zur Wehrmacht, will zu den U-Booten, wird aber Panzer-Richtschütze. Mahlke bringt es „in pausenlosem Einsatz und an strategisch wichtiger Stelle“ zum ersehnten Ritterkreuz. Grass sehnt sich danach nicht, doch forciert kampfbereit ist auch er: Einen „Hitzevorrat anfänglicher Begeisterung“ konzediert er in „Beim Häuten der Zwiebel“.
Die relative Nähe zu Mahlke hat Grass freilich zu narrativen Verschiebungen genötigt. Mahlke wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers Pilenz beobachtet, der den Grund für die Jagd nach dem Ritterkreuz kennt: einen übergroßen Adamsapfel, die „Maus“, die der Orden verdecken soll. Grass brachte sich so auf Distanz zur Ruhmsucht, pathologisierte sie. Pilenz’ Funktion innerhalb des Erzählgefüges ist es, die Handlung voranzutreiben. Angedeutet wird, dass er es war, der einst aus Spaß seinem dösenden Freund eine Katze an die „Maus“ setzte. Erst nach dem Streich empfand Mahlke sein Äußeres als Makel. So erzählt Pilenz in der Rückschau aus schlechtem Gewissen, ein für Grass vertrauter Beweggrund.
Grass entschied sich, den eigenen, nach 1945 einsetzenden Lernprozess, die Lösung vom Militarismus, seinen Helden ungleich schneller durchlaufen zu lassen, im Krieg noch. „Weißt ja, wie wenig ich davon halte: Militär, Kriegspielen und diese Überbetonung des Soldatischen“, sagt Mahlke zu Pilenz, obwohl er später noch reihenweise russische Panzer abschießt. Der Wackler in der Erzähllogik verdankte sich den widerstreitenden Interessen des Erzählers, der sich im Helden verdeckt objektivierte, zugleich aber seine Zeichnung in ein Wunschbild überführte. Grass delegierte die Haltung vor 1945 wie auch die danach an ein und dieselbe Figur, mit dem Ergebnis, dass sie zwischen Heroismus und Einsicht pendelt.
Auf den „Großen Mahlke“ kommt der Autobiograf nur knapp zu sprechen: diese Figur habe ihrem Urheber den frühen Zweifel vorausgehabt; zudem habe ein Zeuge Jehovas Modell gestanden, der sich beim Arbeitsdienst standhaft weigerte, ein Gewehr anzupacken. Ausgespart bleibt hier, dass Mahlke auch die Züge des jungen Grass trug – was nicht die schlechteste Pointe ist. Als „Katz und Maus“ erschien, ereiferten sich alte Kameraden besonders über die Szene, in der der nackte Held das Ritterkreuz vorm Gemächt baumeln lässt: „aber der Orden vermochte nur knapp ein Drittel seiner Geschlechtsteile zu verdecken“. Doppelte Frechheit! Entrüstete wie amüsierte Leser ahnten nicht, dass eine vorderhand nur auf Ridikülisierung des Soldatischen angelegte Fabel auch dem Reden in eigener Sache geschuldet war, einer Ästhetik der Scham, die die biografische Blöße durchschimmern ließ.
Schwer erkennbar war das delikate Verhältnis des Autors zum Helden zuvorderst, weil er ihn mit einer ins Bizarre lappenden Marienverehrung ausstattete. Sie erweist sich im Licht der neuen Informationen als Übersetzung: aus dem Glauben an Jehova wird, dem Danziger Milieu entsprechend, Ultra-Katholizismus. Dass Grass ihn lächerlich zu machen suchte, seinen Helden also auch weltanschaulich von sich wegrückte, verweist auf das Erzeugungsprinzip der ganzen Erzählung. Der Autor versah seine Figur mit einer Reihe nicht-identischer Züge, verfremdete sie, um das fast Identische gefahrlos sagbar machen zu können – der V-Effekt als Sicherheitsmaßnahme.
Aber darf man denn das? Gegen eine Schlüsseltext-Lektüre wird gern eingewandt, dass sie sich aufs Biografische fixiere und dadurch die Literarisierungsleistung des Kunstwerks verkenne. Das Gegenteil trifft zu. Kennt man den Schreibanlass, lässt sich erst ermessen, was der Autor den biografischen Tatsachen hinzugefügt, was er verschoben, und das heißt: welchen Möglichkeitssinn er entwickelt hat. Der Anteil fiktionaler Konstruktion, die literarische Leistung, wird in der Differenz zum Realgeschehen sichtbar.
Günter Grass hat sich als Künstler an den unrühmlichen Teil seiner Lebensgeschichte herangetastet, das mag ihm die Brusttöne im Politischen erleichtert haben. Letztere waren oft genug couragiert. Zusammen ergeben die Ästhetik der Scham und die intellektuellen Verdienste, die sich mitunter der gleichen Produktivkraft verdankten, einen moralischen Uefa-Cup-Platz. Wäre da nicht eine bezeichnende Stelle im FAZ-Gespräch. Wer einem Betroffenen des Holocaust, Paul Celan, nachsagt, in den Fünfzigerjahren an „übersteigerten“ Ängsten gelitten zu haben, eine Traumatisierung wie selbstverständlich benotet, hat sich 1945 nur halb gehäutet. Den hartleibigen Anteil im Habitus wird unser Panzerschütze nicht los, allenfalls im Tempo der Schnecke.