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Archiv-Artikel

Lidokino (1) Die Biennale gewinnt auch in diesem Jahr noch einmal an Profil

Cristina Nord ist in Venedig, wo Mainstreamkino und Experimentalfilm ungeschützt aufeinandertreffen

Zum dritten Mal findet die Filmbiennale von Venedig unter der Federführung von Marco Müller statt, und immer klarer schält sich ein Profil heraus, mit dem sie sich souverän gegenüber den Konkurrenzveranstaltungen in Cannes und Berlin positioniert. Müller favorisiert eine Mischung, die zwar gewagt, im Glücksfall jedoch nahezu vollkommen ist.

An den Lido bittet er zum einen Spektakel- und Mainstreamkino aus Asien und Hollywood, zum anderen aber nicht-narratives, ins Experimentelle weisendes Autorenkino. Anstatt Ersteres ausschließlich außer Konkurrenz, auf sicherem Terrain also, zu präsentieren und Letzteres in die berühmt-berüchtigten Nebenreihen zu verbannen, lässt er manchmal beides ungeschützt aufeinanderprallen.

So wird heute Abend Brian de Palmas „The Black Dahlia“ das Festival eröffnen – mit bekannten Gesichtern aus Hollywood wie Hillary Swank und Scarlett Johansson sowie einer guten Dosis Spannung, denn de Palma hat einen hard-boiled Krimi von James Ellroy verfilmt. Morgen schon kommt als Kontrastprogramm – und ebenfalls im Wettbewerb – Apichatpong Weerasethakuls neuer Film „Sang Sattawat“ („Syndromes and a Century“). Wenn der thailändische Regisseur dort weitermacht, wo er mit „Tropical Malady“ (2004) aufhörte, steht ein Film zu erwarten, der sanft dekonstruiert, was Kino ist, ein Film, der sich zuerst der Physis von Landschaften, Menschen und Gegenständen zuwendet. Von Andy Warhol borgt sich Weerasethakul die langen Einstellungen und die Lust daran, Menschen in Momenten der Muße zuzuschauen. Daraus entsteht eine hypnotische Kraft; Plot und Figurenpsychologie werden zur Quantité négligeable.

Ein paar Tage später stellen Jean-Marie Straub und Danièle Huillet im Wettbewerb ihr jüngstes Werk vor, „Quei lori incontri“. Das Oeuvre des Paares verbindet die Wucht antiker Tragödien und Mythen mit dem unbeholfenen Deklamieren sizilianischer Laiendarsteller; es fügt eine radikale politische Positionierung in einen hochkulturellen Bezugsrahmen ein, indem es Hölderlin, Schönberg, Kafka und Bach als Referenzpunkte wählt. Vor ein paar Jahren hat der portugiesische Regisseur Pedro Costa ein Werkstattporträt der beiden angefertigt. Darin sieht man, wie sie im Schneideraum die Montage von „Sicilia“ besorgen. Heftig debattieren sie, wann der Schnitt auszuführen ist: in dem Augenblick, in dem sich das Lid des Landarbeiters ganz gesenkt hat – oder doch kurz davor? So ringen sie um jede Einstellung. Die Akribie, die Hingabe, die Streitlust, die dabei spürbar werden, die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit, mit der Straub und Huillet Kino machen: All das steht in krassem Gegensatz zu dem Umstand, dass die Filme des Paars in Deutschland fast von den Leinwänden verschwunden sind, ja, dass sie als spröde, langweilig und unzugänglich gelten. Dieser Einschätzung entgegenzutreten und Straub und Huillets Arbeit im Wettbewerb zu präsentieren, verlangt Mut. Denn das Unverständnis wird nicht auf sich warten lassen.

Wenn Marco Müller Pech hat, dann halten die Namen nicht, was sie verheißen. Wer weiß – vielleicht ist „Inland Empire“ von David Lynch, der in diesem Jahr den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk entgegennehmen wird, eine knapp dreistündige esoterische Enttäuschung, vielleicht verliert sich der taiwanesische Filmemacher Tsai Ming-liang mit seiner jüngsten Arbeit „Hei yanquan“ („I don’t want to sleep alone“) in Manierismen, vielleicht ist der Portugiese Manoel de Oliveira endgültig zu alt, als dass man seinen Filmen noch folgen wollte. Wäre es so, das Festival litte doppelt: unter den Enttäuschungen der einzelnen Filme und unter dem Hochdruck, der aus Müllers kontrastreicher, wagemutiger Programmierung entsteht. Doch wenn Marco Müller Glück hat – und wir mit ihm –, wenn auch nur die Hälfte der Filme ihr Versprechen einlöst, dann wachsen Spektakel und Kunst in eine luftige Höhe. Der Blick auf das, was Kino gegenwärtig sein kann, wird dann erhellend und betörend zugleich sein.