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Gegen die Karteileichen

Die Bundesregierung will, dass sich Deutschland im Jahr 2010 an einer europaweit geplanten Volkszählung beteiligt

„Die Motivation der Bevölkerung ist nicht allzu groß“, sagt Bernd Stürmer, Statistisches BundesamtDie Statistiker gehendavon aus, dass eseine „Karteileichenratevon vier Prozent“ gibt

VON ULRIKE WINKELMANN

Fast zwanzig Jahre nach der letzten Volkszählung hat das Bundeskabinett gestern beschlossen, dass es 2010 einen neuen Zensus geben soll. Grundlage wird eine EU-Verordnung sein – denn gezählt wird dann in ganz Europa.

Die schwarz-rote Regierung setzt so einen Punkt ihres Koalitionsvertrags um. Darin steht: „Deutschland beteiligt sich an der auf EU-Ebene 2010/2011 anstehenden neuen Zensusrunde, die mit möglichst geringen Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger und so kostengünstig wie möglich durchgeführt werden soll.“ Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) nannte die Volkszählung gestern „eine lohnende und gebotene Investition, da ungenaue und unzuverlässige Daten zu kostspieligen Fehlplanungen und Fehlentscheidungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft führen könnten“.

Anders als bei der letzten Volkszählung 1987 wird es jedoch in Deutschland keine flächendeckende, persönliche Befragung in den Haushalten geben, sondern einen „registergestützten“ Zensus. Hierzu werden die Daten der Meldebehörden, wo die Einwohner gezählt werden, mit denen der Bundesagentur für Arbeit abgeglichen, wo die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die Minijobber und die Arbeitslosen erfasst sind. Bund, Länder und Kommunen werden dazu ihre Beamten zählen.

Zum Abgleich der Ämterzahlen mit der Wirklichkeit soll es aber eine Stichprobe geben, bei der immerhin zehn Prozent der Bevölkerung – also gut acht Millionen Menschen – über nähere Lebensumstände Auskunft geben müssen. Außerdem werden die 17,5 Millionen Gebäudeeigentümer und -verwalter angeschrieben und gebeten, über ihre Immobilien Auskunft zu geben: Baujahr, Größe und Art der Wohnungen, Bad, Küche, Heizung?

Was in der Zehn-Prozent-Stichprobe gefragt wird, soll sich nach einem von der EU noch zu veröffentlichenden Merkmalskatalog richten. Dieser wird darüber hinausgehen, was beim jährlichen deutschen Mikrozensus abgefragt wird, für den ein Prozent der Bevölkerung besucht werden. So werden etwa Fragen zum Migrationshintergrund genauer sein als im Mikrozensus, erklärt Bernd Stürmer, zuständiger Volkszähler beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden: „Die EU wird nach Geburtsort und -land, nach dem Aufenthalt vor einem Jahr fragen, nach Ausreisedaten und Ankunftsdaten im Ausland sowie nach dem Einreisedatum.“

Das Statistische Bundesamt veranschlagt die Kosten des registergestützten Zensus mit 450 Millionen Euro. Eine traditionelle Zählung, bei der ein Heer von Fragern in die Haushalte kommt, würde dagegen rund 1,4 Milliarden Euro kosten, erklärt Stürmer. Das Kostenargument sei der Hauptgrund, von der traditionellen Zählung Abstand zu nehmen. Auch der „internationale Trend“ sei entsprechend. Allerdings ist es „schon für die Stichprobe schwierig, geeignete Interviewer zu finden“, räumt er ein. „Auch die Motivation der Bevölkerung ist nicht allzu groß.“ Grundsätzlich aber „gehen wir davon aus, dass die Qualität der Daten nicht schlechter ist als bei einer traditionellen Zählung.“

Dass die vorhandenen Daten schlecht sind – darüber sind sich die Wiesbadener Statistiker mit der Wissenschaft, vor allem den Demografen, einig. Das Bundesamt schätzt, dass allein die offizielle Bevölkerungszahl von 82,5 Millionen um gut 1,3 Millionen Einwohner zu hoch gegriffen ist: Viele Menschen melden sich beim Umzug zwar bei einer Kommune an, aber woanders nicht ab. „Wir gehen von einer Karteileichenrate von vier Prozent aus“, sagt Stürmer.

Er bestreitet, dass die Statistiker sich zunächst eine ganz traditionelle Zählung aller Köpfe gewünscht hätten. Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung dagegen erklärt, wissenschaftlich sei nur eine Tür-zu-Tür-Befragung akzeptabel. Selbst wenn der registergestützte Zensus in den Niederlanden und Skandinavien erfolgreich stattfinde, „so braucht man als Grundlage dafür doch einmal richtige Daten“ – wie sie auch in den Vorbildländern zunächst erhoben worden seien.

Klingholz fordert außerdem eine Erweiterung des Fragenkatalogs: Zum Beispiel zur politisch so heiß gehandelten Frage, wie viele Kinder Frauen in Deutschland tatsächlich haben, gibt es bislang staatlicherseits nur Schätzungen. Hierzu winkt jedoch der Bundesstatistiker Stürmer ab: zu sensibel. „So etwas wird an und für sich nicht erhoben.“ Da muss die Forschung wohl weiter ohne den Staat auskommen.

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