: Pflaumenschnaps inklusive
Die britische Mihai-Eminescu-Stiftung kümmert sich um den Erhalt rumänischer Dörfer und ist seit 2000 auch in Viscri und einigen Nachbarorten aktiv. Namhafte französische Reiseführer wie „Routard“ werben mittlerweile mit der Dorfidylle
von BARBARA OERTEL
Die Zeit scheint rückwärts zu gehen. Auf der schnurgeraden breiten Dorfhauptstraße sitzen zwei alte Frauen mit Kopftüchern und in wadenlangen Röcken auf einer Holzbank und lassen sich von den letzten Strahlen der Nachmittagssonne wärmen. Gegenüber geht es vor einem kleinen Lebensmittelladen mit Alkoholausschank bei Schnaps und Bier schon richtig zur Sache. Walter Fernolend begnügt sich mit einem Mineralwasser. Der 48-Jährige ist einer von 24 Siebenbürger Sachsen, die heute noch in Viscri (Deutschweißkirch) leben. Vor 800 Jahren gründeten seine Vorfahren das Dorf im zentralrumänischen Bezirk Kronstadt, 45 Kilometer südöstlich von Sighisoara (Schäßburg).
Bis Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Viscri noch fest in sächsischer Hand. Heute und als Folge der Auswanderungswelle der Sachsen stellen die Roma mit rund 70 Prozent die Mehrheit der 450 Einwohner. „Ich und meine Familie, wir wollten auch weg, aber irgendwie hat das nicht geklappt“, sagt Fernolend. Früher seien die Sachsen eine gut organisierte Gemeinschaft gewesen, Nachbarschaftshilfe und kirchliches Engagement garantierten den Zusammenhalt. Heute würden die 35 Kinder in den vier Klassen der Grundschule ausschließlich auf Rumänisch unterrichtet und finde der Gottesdienst mit einem Pastor aus dem Nachbardorf nur noch jeden zweiten Sonntag statt.
Die gotische Kirchenburg am nordwestlichen Ende des Dorfes, die 1999 samt Dorfkern in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde, ist das Wahrzeichen von Viscri, eine weiße Anlage mit sechs mächtigen Wehrtürmen. Im Inneren der Burgmauer sind noch die Wohn- und Vorratsräume für Speck und Getreide zu sehen, die die Bevölkerung im Falle eines Überfalls von Türken und Tataren das Überleben sichern sollten. Mit Erfolg: Zweimal wurde Deutschweißkirch niedergebrannt, die Burg aber nie von Feinden eingenommen.
Caroline Fernolend, die Frau von Walter Fernolend, trägt einen modischen Kurzhaarschnitt und beeindruckende Ohrgehänge. Sie ist die Leiterin der nach dem berühmten rumänischen Dichter Mihai Eminescu benannten Stiftung in Viscri. Die britische Organisation kümmert sich um den Erhalt rumänischer Dörfer und ist seit 2000 in Viscri und einigen Nachbarorten aktiv. 30 Dorfbewohner sind derzeit in der Stiftung beschäftigt, davon auch viele Roma. „Die Leute werden geschult, mit traditionellen Methoden die Gebäude zu erhalten“, sagt Caroline Fernolend. Die traditionellen Methoden bedeuten, dass nur Kalk und Sand verbaut werden dürfen. Originalgetreue Ziegel werden in der dorfeigenen Ziegelei hergestellt. Mehrmals waren britische Experten vor Ort, die, nach einer Prüfung des Gesteins der 150 bis 200 Jahre alten Häuser, die Dorfbewohner in den notwendigen Techniken unterwiesen haben.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Caroline Fernolend weist auf einen der typisch sächsischen Höfe, die in regelmäßiger Anordnung die beiden Seiten der rund einen Kilometer langen Hauptstraße säumen. Die Giebelfassade und die Toreinfahrt, die zur Straßenseite zeigen, sind frisch verputzt und in einem warmen Rotton gestrichen. Eine Plakette der Mihai-Eminescu-Stiftung an der Vorderfront zeigt an, dass hier die Restaurierungsarbeiten abgeschlossen sind. „Unsere Mitarbeiter werden nicht pro Stunde, sondern nach dem Abschluss der Arbeiten bezahlt“, sagt Caroline Fernolend. „Dadurch sind sie viel motivierter und fühlen sich auch später für die weitere Pflege der Gebäude verantwortlich.“
Mittlerweile sind ein paar Dutzend Häuser in Viscri renoviert und so vor dem Verfall bewahrt worden. Dass die Restaurierung auch künftig weitergeht, wird von allerhöchster Stelle überwacht. Zweimal hat Prinz Charles, der Schirmherr der Eminescu-Stiftung, Viscri bereits besucht – das letzte Mal vor wenigen Monaten. Offensichtlich muss der britische Dauerthronanwärter beeindruckt gewesen sein, denn weitere Gelder wurden in Aussicht gestellt. Zwar ist Charles wohl bislang der prominenteste, doch keineswegs der einzige Besucher Viscris. „Im vergangenen Jahr hatten wir achthundert Übernachtungen ausländischer Touristen. Meistens kommen Engländer und Franzosen, die sich für Malerei und die Natur interessieren“, sagt Walter Fernolend. Er war einer der Ersten, die Ende der 90er-Jahre die Idee hatten, verlassene Höfe zu Gästeunterkünften umzubauen.
Zugegeben, ein ambitiöses Unterfangen in einem Dorf, in dem es keine Kanalisation gibt und wo das Wasser nach der Wäsche in den Straßengraben gekippt wird. Mittlerweile haben sich zehn Familien dieser Tourismusinitiative angeschlossen, besuchen im Dorf angebotene Fremdsprachenkurse und bieten einen Urlaub der etwas anderen Art an. Umgerechnet zwölf Euro kostet den Gast eine Übernachtung – Halbpension, Plumpsklo und Gemeinschaftsdusche inklusive. Mehrere namhafte französische Reiseführer wie „Routard“ werben mittlerweile mit der authentischen Dorfidylle von Viscri und der Verpflegung der Besucher aus eigener Herstellung. So kommt denn auch einmal im Jahr ein als Tourist getarnter französischer Reisefachmann, um die Einhaltung der Standards zu überprüfen. „Wenn sich dann herausstellt, dass die Marmelade nicht selbstgemacht ist, fliegt die Familie aus dem Projekt“, sagt Caroline Fernolend.
Schüchtern nähert sich eine Roma und bietet Wollsocken zum Verkauf an. Wie viele andere Frauen in Viscri arbeitet auch sie in der Dorfstrickerei und kommt auf diese Weise zu einem zusätzlichen Einkommen. Die Kleidungsstücke – Socken, Mützen, Handschuhe, Pullover, Westen und Pantoffeln – werden in einem kleinen Kunstcafé in Viscri verkauft, das ein zugezogenes deutsches Ehepaar betreibt. Die Neuankömmlinge organisieren auch den Vertrieb in Deutschland. „Windeln aus Schafwolle sind dort besonders gefragt“, sagt Caroline Fernolend.
Auch Elisabeta Ghilea und ihr Mann beherbergen seit dem Jahr 2000 Touristen. Die 40-Jährige, deren üppiger Leib in einer Kittelschürze steckt, hat früher als Köchin in der örtlichen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft gearbeitet. Jetzt ist sie froh, mit dem Tourismus etwas verdienen zu können. „Wenn Rumänien der Europäischen Union beitritt, wird das für uns sehr schwer. Wir haben sechs Kühe, können uns aber keine Melkmaschine leisten“, sagt sie.
Die beiden niedrigen Gästezimmer sind mit massiven Holzmöbeln ausgestattet. Auf einer der Truhen liegen Novellen des französischen Romanciers Guy de Maupassant. An der Wand steht, wohl eher als Dekoration, ein schmales hohes Holzbett, mit einer Schublade. Oben schlief früher das jungverheiratete Paar, während sich in der Schublade die Schwiegereltern zur Nachtruhe legten. An den Wänden hängen, eingerahmt und unter Glas, sinnstiftende Sprüche wie: „Willst glücklich werden alle Zeit, halt ein in Lust, halt aus in Leid.“ Zu vorgerückter Stunde fährt Elisabeta Ghilea auf. Die langen Holztische im Innenhof des Hauses biegen sich unter Fleischmassen, Brot, Kartoffelbrei und Salat. Kurze Zeit später holt Walter Fernolend seine Gitarre und es werden deutsche Volkslieder dargeboten. Wo die Textsicherheit fehlt, genügt ein Blick in das Liederbuch aus den 30er-Jahren mit dem Horst-Wessel-Lied als erster Titel im Inhaltsverzeichnis. Derweil kreist der selbstgemachte 50- bis 60-prozentige Pflaumenschnaps, der im Übernachtungspreis inbegriffen ist. „An dem kommt hier keiner vorbei“ sagt Walter Fernolend. Die verspätete Abreise am nächsten Morgen gibt ihm Recht.
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