: Aidskranke gehen in die Offensive
Welt-Aidskonferenz in Toronto endet mit zunehmendem Selbstbewusstsein von Betroffenengruppen. Regierungen Kanadas und Südafrikas am meisten in der Kritik. Kanada sagt neue Aidspolitik ab, in Südafrika besetzen Aktivisten öffentliche Gebäude
VON DOMINIC JOHNSON
Es war eine bewegende Trauerfeier, wie sie Kanada noch nicht gesehen hatte. 8.000 Menschen aus aller Welt versammelten sich in der Nacht zu gestern mit Kerzen und Musik zu einer Mahnwache in der Innenstadt von Toronto, um der 25 Millionen Aidstoten zu gedenken, die es seit dem ersten Auftreten der unheilbaren Immunschwächekrankheit vor 25 Jahren gegeben hat. Kanadische Aidskranke und Angehörige von Aidstoten mischten sich unter Aktivisten aus Tansania und Südafrika, die in Kanada tun konnten, was die engen gesellschaftlichen Konventionen in ihrer Heimat nicht zulassen: in aller Öffentlichkeit die Namen ihrer an Aids verstorbenen Freunde rezitieren.
An die Toten erinnern – noch nie war das so ein prominentes Thema bei den Weltaidskonferenzen, deren 16. gestern in Toronto unter Rekordbeteiligung zu Ende ging. Rund 11.000 Aidstote gibt es täglich auf der Welt. Allein in Südafrika, wo jeden Tag 800 Menschen an Aids und seinen Folgen sterben, hätte eine bessere Aidsbekämpfung letztes Jahr 75.000 Leben retten können, rechneten Aktivisten der führenden südafrikanischen Aidsgruppe TAC (Treatment Action Campaign) vor. Sie forderten die prominenten Konferenzgäste wie Bill Clinton und Bill Gates, die den Konferenzauftakt dominiert hatten, dazu auf, endlich klare Worte der Kritik an der Regierung Südafrikas zu finden. Deren Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang reiste nach Toronto mit Werbung für Vitaminpräparate und Rote Bete als Alternativen zu Aidsmedikamenten.
Besonders ein Aidstoter erzürnte die Aktivisten aus Südafrika: Häftling „MM“ in Kapstadt, der 1996 als gesunder Mann ins Gefängnis kam, dort HIV-positiv wurde und vergangenen Dienstag starb, ohne behandelt worden zu sein. „MM“ war einer von 15 Gefängnisinsassen gewesen, die in Südafrika einen Musterprozess gegen die Regierung wegen der Verweigerung von Aidsbehandlung in Haftanstalten gewonnen hatten. Die Affäre beschäftigte die Konferenzflure von Toronto und wurde zum Symbol der katastrophalen Untätigkeit vieler Regierungen im Kampf gegen Aids. Nun entwickelt sie sich zum politischen Skandal: In Kapstadt besetzten gestern Aidsaktivisten in einer Protestaktion mehrere öffentliche Gebäude.
Auch die Regierung des Gastgebers Kanada stand bei den 31.000 Konferenzdelegierten in der Kritik. Premierminister Stephen Harper hielt es nicht für nötig, die Konferenz zu besuchen, und schickte nur seinen Gesundheitsminister Tony Clement. Der wurde bei der nächtlichen Mahnwache für die Aidstoten mit Pfiffen begrüßt. Das Thema Aids sei zu politisiert, ließ Premier Harper die staunende Öffentlichkeit als Grund für seinen Konferenzboykott wissen. Aus demselben Grund sagte der konservative Politiker auch die lang geplante öffentliche Vorstellung einer neuen nationalen Aidspolitik pünktlich zur Konferenz von Toronto ab. „Die Regierung Kanadas ist dem Kampf gegen HIV/Aids verpflichtet“, sagte Regierungssprecher Erick Waddell am Donnerstag. „Wir haben uns dazu verpflichtet, in Zukunft mehr zu tun. Doch es wird diese Woche keine Ankündigungen geben, solange das Thema so politisiert ist.“
Diese „Politisierung“ liegt vor allem daran, dass mehr Jugendaktivisten als sonst die Welt-Aidskonferenz besucht haben – rund 1.000 der 31.000 Delegierten. Sie haben einen Aktionismus entfaltet, der die Debatten von Fachleuten und Wissenschaftlern in den Hintergrund hat treten lassen, und sie hoffen, dass sich das nicht mit dem Konferenzende erledigt. Die nächste Weltaidskonferenz findet 2008 in Mexiko statt.