: Wie weit kannst du gehen?
Kultur und Pornografie durchdringen sich gegenseitig. Am deutlichsten zeigt sich dies jedoch nicht in Arthaus-Filmen oder teuren Bildbänden: Der direkte ästhetische Zugriff auf die „Seele“ findet sich heute in der so genannten „Gonzo“-Pornografie
VON MARK TERKESSIDIS
Demnächst rollt eine neue Welle von Arthaus-Filmen mit Hardcore-Sexszenen auf uns zu – „Battle in Heaven“ aus Mexiko etwa, der US-Film „Brown Bunny“ oder auch die deutsche Produktion „Der Freie Wille“ mit Jürgen Vogel. Zu Recht kann man vermuten, dass in vielen dieser Filme die Kunst als Vorwand benutzt wird, um einem „normalen“ Publikum den reuelosen Genuss von Pornografie zu ermöglichen – so wie es der Taschen Verlag schon seit Längerem mit seinen Porno-Bildbänden für den Kunst-Coffeetable tut.
Dennoch ist der Einbruch von Porno ins E-Genre keineswegs zufällig und bietet daher einen Anlass, um über das Verhältnis von Pornografie und Kultur nachzudenken. Tatsächlich ist Porno nicht nur kulturfähig geworden, sondern es hat eine gegenseitige Durchdringung stattgefunden. Zumindest zwei Entwicklungen im Genre hat es gegeben, welche die angesprochene Durchdringung auf den Punkt bringen. Zum einen werden in den letzten Jahren zunehmend High-Class-Filme gedreht, die sich allerlei künstlerische Mittel aneignen, um ihr Thema zu bearbeiten – dafür stehen etwa Regisseure wie Christophe Mourthé oder Michael Ninn. Zum anderen ist unter der Bezeichnung „Gonzo“-Porno eine Gattung entstanden, in der Sex besonders schmutzig und extrem inszeniert wird: Im Zentrum stehen hier Analverkehr, Deep Throat, Schläge und die Aufnahme von Körperflüssigkeiten (Sperma, Urin, Kot).
Warum ausgerechnet Letzteres etwas mit Hochkultur zu tun haben soll, das will im ersten Moment kaum einleuchten. Allerdings geht es in dieser Art von Filmen nicht mehr maßgeblich um Sex und um Körper, sondern eher darum, dass die Hauptdarstellerinnen ihre Grenzen ausprobieren sollen. Gewissermaßen geht es um deren „Seele“. Am Anfang lässt sich daher folgende These aufstellen: Während es in der eigentlichen Pornografie immer weniger um den Körper geht, sondern um eine Art kulturelle Sublimierung, nähert sich der Konsum von Kultur immer mehr dem pornografischen Erlebnis an: Film, Kunst und Musik dienen mittlerweile hauptsächlich dazu, das eigene Befinden zu stimulieren.
Jedes Land hat seine eigenen Spielarten von Pornografie und somit auch von „Gonzo-Pornos“. In Deutschland geht es in diesem Filmen hauptsächlich um Sperma, Urin und Kot. Zum Beispiel hat die Firma John Thompson Productions aus München sich auf das Schlucken von Sperma verlegt. Das Personal besteht gewöhnlich aus einer Frau und einer größeren Anzahl von gesichtslosen Männern. Diese Männer sind „Laien“ – stets wird eine Telefonnummer eingeblendet, wo man sich zum Mitmachen anmelden kann. Inzwischen ist das Ganze als Serie mit spezifischen Rollen längst eingeführt, doch zu Beginn führte der Regisseur mit den Darstellerinnen noch Gespräche über ihre Gefühle: Wovor sie am meisten Angst haben, vor der großen Männerzahl oder den Spermamengen und Ähnliches. Diese Gespräche konnten durchaus dramatisch werden, etwa als ein Mädchen, nach ihren Berufswünschen gefragt, nur meinte, sie wolle „berühmt werden“.
Wenn man nun einen Blick wirft auf die Produktionen der Berliner Firma Subway Innovative ProdActions, deren Macher auch den berüchtigten KitKatClub betreiben, dann findet man auf dem Klappentext der Serie „Experiment Ausgeliefert Sein“ folgende Bemerkung: „Der Schwerpunkt liegt auf der inneren Entwicklung der Darstellerinnen. Es geht um die erotische Konfrontation mit tieferen Schichten wie Schambereiche, Schutzmechanismen & psychischen Statuspositionierungen. Ein bizarr-ästhetisches Porträt zwischen Selbstironie, Selbstüberwindung und Groteske.“ Im ersten Moment klingt das nachgerade irrsinnig, aber tatsächlich trifft diese Beschreibung zu. In den Filmen werden zumeist zwei Frauen etwa anderthalb Stunden lang von einer Horde von Männern malträtiert. Sie werden angespuckt, trinken Urin oder man spritzt ihnen aus dem Anus der Männer zuvor eingeflößte Flüssigkeiten ins Gesicht. In anderen Filmen kommt auch Kot hinzu. Manchmal werden Wettbewerbe inszeniert, wer bei diesen Aktivitäten am meisten abkann – ein Film heißt ganz unverbrämt: „Wer wird Miss Perversum?“
Das ist nicht leicht zu ertragen – auch für die Konsumenten. Aber diese Filme sind in jeder gut sortierten Videothek erhältlich. Ohne solche und ähnliche Filme könnten die Verleihe vermutlich gar nicht mehr überleben. Aber warum sieht Mann sich so etwas an? Wenn man mal davon ausgeht, dass der Erfolg dieser Produktionen nicht nur auf der angestiegenen Zahl derer beruht, die sich für ausgefallene Sexualpraktiken interessieren, dann müssen die Gründe woanders liegen. Zunächst handelt es sich zweifellos um eine schlichte Weiterentwicklung im Genre – eine Ausschmückung des im Porno immer schon aufgeführten sexistischen Mythos von der sexuell unersättlichen Frau.
Doch der Genuss liegt auch in der „seelischen“ Dimension dieser Filme: Da geht eine Person an ihre und manchmal auch über ihre Grenzen (Tränen sind durchaus ein willkommener Höhepunkt). Wenn man einen Blick auf die zugehörigen Foren wirft, dann wird der Ekel, den so manchen Zuschauer beschleicht, offenbar kompensiert dadurch, dass es so „krass“ ist, was die Schauspielerinnen machen. In solchen Filmen werden die Darstellerinnen zur Verkörperung des aktuellen Kapitalismus – eines Kapitalismus, der eben nicht mehr auf der Ausbeutung der Körper beruht, sondern darauf, dass die Menschen ihre „Seele“ hergeben und für Arbeitsplätze und Unternehmensgewinne bis ans Limit gehen. Diese Darstellerinnen sind so etwas wie die Heldinnen eines Regimes der permanenten Überforderung. Dass die Kulturindustrie pornografisch sei und letztlich nur den eigenen Alltag als Paradies anbietet – das schrieben bereits Adorno und Horkheimer. In diesem Sinne bieten diese „Gonzo“-Produktionen einem männlichen Publikum die Möglichkeit, sich seriell mit einer „krassen“ Variante der eigenen neoliberalen Subjektivität zu konfrontieren und zu identifizieren. Inszeniert wird das Ganze als grenzüberschreitende Erfahrung – mit dem eigenen Ekel als Zeugen.
Porno war selbstverständlich immer schon Kultur. Ein einsamer Konsument lässt sich allein von einem Bild erregen – weiter kann der sexuelle Genuss kaum abstrahiert werden. Die neue Qualität besteht darin, dass bei der Speerspitze der Produktionen nicht mehr der Körper, sondern vielmehr die „Seele“ der Darstellerin im Mittelpunkt steht. Indem sie mutmaßlich authentisch bis an ihre Grenze geht, überschreitet sie zudem die Grenze zwischen Kunst und Leben – „Avantgarde extrem“ nennt sich dementsprechend eine weitere Porno-Serie aus Berlin. Die „Seele“ jedoch war stets der Arbeitsbereich der bürgerlichen Hochkultur. In der Hochkultur konnte der Bürger das Schöne und Erhabene erleben oder seit der Aufklärung seine Befreiung aus der selbst gewählten Unmündigkeit zelebrieren. Doch diese Zeiten sind vorbei. Auch Hochkultur ist heute schlicht ein Konsumgut und ein äußerst wichtiges dazu. Und so wie sich Porno auf die E-Kultur zubewegt, so basiert der E-Kultur-Verbrauch zunehmend auf pornografischen Erlebnissen.
Die Funktionalität der Pornografie ist Vorbild geworden für die Kultur insgesamt. Kultur muss spektakulär sein, Emotionen auslösen, „spannend“ wirken oder Wohlbefinden bescheren. Literatur entführt in fremde Gefilde, Musik wird entsprechend der eigenen Gefühlsfarbe gehört oder soll diese beeinflussen, die Kunst muss zur Einrichtung passen. „Kulturverführer“ heißt entsprechend eine Reihe von Reiseführern durch die großen deutschen Städte. Kultur kann aber auch als Symbol dienen oder zur Distinktion verwendet werden – das ändert nichts an ihrer reinen Funktionalität.
Die bürgerliche Kultur ist heute Porno. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Porno nicht nur in den Lifestyle-Magazinen ein Dauerthema ist oder dass Pornodarstellerinnen ihre Memoiren schreiben, sondern Fotografen wie Nobuyoshi Araki oder Terry Richardson in Museen hängen oder eben eine Welle von Arthaus-Filmen mit Hardcore-Elementen auf uns zukommt. „Geil!“ ist das Bewertungskriterium der Stunde. „Geil“ ist aber nur eine Zustandsbeschreibung, keine Bewertung. Was „geil“ macht, dafür kann kein Kritiker mehr sensibilisieren. Kultur braucht keine Beurteilung mehr, sie braucht Wirkung.
Insofern hat die Pornografisierung der Kultur eine ausgesprochen konservative Note: Sie verhindert Kritik. So erklärt sich auch eines der größten Paradoxe der heutigen Zeit; dass nämlich die Konservativen die Pornografie nicht mehr bekämpfen. Weniger legale Hindernisse als unter der Bush-Regierung etwa hat es für das Pornobusiness noch nie gegeben. Aber das sollte nun nicht dazu verleiten, zum Thema Porno die vakante moralische Position zu besetzen. Porno ist nicht verwerflich und nicht böse. Pornografie muss zum Gegenstand einer politischen Kritik werden. Dafür freilich gibt es keinen anderen Weg, als sich tatsächlich in die Untiefen der Videotheken zu begeben – anstatt naserümpfend an den DVD-Wänden vorbeizuschreiten und so zu tun, als wären wir nicht alle längst Pornokonsumenten.