piwik no script img

Archiv-Artikel

„Freier, als man wünscht“

Der Kühlschrank steht im Mittelpunkt der modernen Küche. Ein Gespräch mit dem französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann über Zucker, Fett, Haferbrei und die Individualisierung des Essens

INTERVIEW MONIKA GOETSCH

taz: Herr Kaufmann, Sie widmen Ihr neues wissenschaftliches Werk, „Kochende Leidenschaft“, einer französischen Blätterteigpastete. Warum?

Jean-Claude Kaufmann: Weil diese kleine Pastete für mich immer ein großer Genuss war. Es handelt sich um eine Köstlichkeit aus meiner Kindheit. Wir hatten die Pastete zu einem Picknick mitgenommen. Sie war großartig. Der buttrige Teig, die Eier, das Gemüse, das Kalbfleisch… Sie schmeckte einfach so, wie eine Osterpastete schmecken muss. Zugleich schmeckte sie nach Familie. Nach einer innig verbundenen Familie an einem Ausflugstag zweihundert Kilometer fern von zu Hause, nach einem sehr intimen Augenblick am Rande eines Motorcrossrennens. An der Pastete zeigt sich, wie eng Essen und Familie zusammengehören.

So begannen Sie sich für Essen zu interessieren?

Mit dieser Pastete habe ich das Universum des Essens und Kochens betreten. Mein theoretisches Interesse hat sich später entwickelt. Meine ersten soziologischen Befragungen habe ich ja der schmutzigen Wäsche gewidmet und ihrer Bedeutung in Paarbeziehungen und Familien. Aber ich muss zugeben, dass die Welt der schmutzigen Wäsche mir fremd war. Ich wasche nicht. Ich helfe höchstens mit. Aber ich liebe das Essen. Ich liebe das Kochen. Ich kenne mich gut aus dabei. Darum hatte ich so große Lust, mich intensiv mit der Bedeutung der Nahrungsaufnahme heute zu beschäftigen. Ich wollte herausfinden, was im modernen Esser vor sich geht, was in seiner Küche, was am Küchentisch.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie den Esser von heute hin und wieder als einen armen Kerl.

Weil der Esser frei ist, zu essen, was, wann und wo er möchte.

Das soll schlecht sein?

Das hat zunächst einmal sein Gutes. Es folgt dem individualistischen Konzept der Moderne und schenkt ein Stück Unabhängigkeit. Es birgt aber auch Schwierigkeiten. Man ist freier, als man es sich wünscht. In früheren Gesellschaften strukturierten wiederkehrende Mahlzeiten die Nahrungsaufnahme, unhinterfragte religiöse Gesetze. Die Produkte waren rar. Man arbeitete hart und hatte sich schweres Essen verdient. Heute ist das völlig anders. Den armen Esser, der durch die Straßen spaziert, locken kleine Leckereien, perfekte Sandwiches, wunderbare Düfte. Verlangen steigt in ihm auf. Gleichzeitig hat er genau verstanden, was er nicht darf: nicht zu viel essen, nicht zu fett, nicht zu süß. Er wird ja bombardiert mit Informationen, kennt die gesundheitlichen Risiken und nimmt sie sehr ernst. Also muss er seine Begierden kontrollieren. Den Todsünden Fett und Zucker widerstehen. Die Mühsal der Selbstbeschränkung auf sich nehmen. Ihm bleibt einfach nichts anderes übrig.

Wobei die Informationen, die auf ihn einprasseln, häufig wechseln und sich widersprechen?

Weil die Wissenschaft Hypothesen aufstellt und die Medien die Ergebnisse aus dem Zusammenhang reißen. Dann wird die Pampelmuse zum Heilsversprechen. Nicht dass Sie mich missverstehen: Ich habe durchaus nichts gegen Pampelmusen. Aber wenn man Informationen derart isoliert, verhält man sich wie die ersten religiösen Gesellschaften, die versuchten, die Nahrungsmittel in gut und schlecht zu unterscheiden. Der arme Konsument folgt nun einerseits kritisch den Debatten um gute und schlechte Ernährung und all den so produzierten Widersprüchen, die seine Sicherheiten zerstören. Die ständige Reflexion ist ja kennzeichnend für das moderne Leben. Andererseits ist auch der kritischste Geist gezwungen, Entscheidungen zu fällen, zu handeln. Also leiten magische Gedanken sein Tun. Im modernen Verbraucher regiert immer beides: die Rationalität – und die Irrationalität, die zurechtgebogenen Argumente, der kleine Glaube, das Magische.

Wie die Vorstellung von der „Natürlichkeit“.

„Natürlich“ ist heutzutage ein besonders wichtiges magisches Wort. Genauso wie „biologisch“ und „light“. Eine unserer Interviewpartnerinnen, Prune, weiß schon, dass sie ein bisschen zu fette Sachen isst. Aber sie tröstet sich damit, dass ihre Wurst „natürlich“ sei. Auf die Nachfrage, was an dieser Wurst denn so natürlich sei, sagte sie übrigens: Ich habe sie nicht im Supermarkt, sondern beim Metzger gekauft.

Auch sonst passt vieles nicht zusammen, was Ihnen Ihre Gesprächspartner über das Essverhalten berichten.

Das Problem ist einfach, dass Pommes frites den meisten Leuten ziemlich gut schmecken. Die Alltagspraxis ist darum viel weniger von einer kohärenten Theorie geprägt, als man glaubt. Weil wir nicht durch und durch rational sind. Man isst nun mal nicht mit dem Gehirn.

Immerhin gehört Ihre traditions- und naturbewusste Prune zu den wenigen, die überhaupt noch kochen.

Es wird seltener und unaufwändiger gekocht als früher, das ist richtig. Die schnelle Küche der Fertiggerichte ist eine Folge der Individualisierung, in der jeder seinen eigenen Rhythmus leben möchte. Vor allem aber ist sie Folge der Emanzipation: Frauen wollen nicht ewig an den Töpfen stehen. Darum bildet nicht mehr der Herd, sondern der Kühlschrank das Zentrum der Küche. Individualisten haben hier freie Hand: Sie picken sich dies und das aus dem Kühlschrank, knabbern es allein vor dem Fernseher oder auf dem Balkon und entgehen so dem Kollektivzwang der Familienmahlzeit. Meistens findet man aber neben dieser Individualisierung des Essens immer noch gemeinsame Mahlzeiten, die dem Koch doch oft große Mühsal bereiten, gerade weil er sich der Arbeit nicht hingeben, sondern sie rasch hinter sich bringen will. Gemeinsame Abende mit Aperitif und Knabbereien. Und auch das große, mit Leidenschaft und verschwenderischer Hingabe inszenierte Festmahl. Das ist sicher wichtig. Denn erst am Esstisch entsteht die Familie. Das war schon immer so. Auch in früheren Gesellschaften entstand Verwandtschaft durch das gemeinsame Verspeisen von Haferbrei.

Man kann doch auch zusammen Ferngucken und Sport treiben.

Aber das Essen ist existenzieller. Man verbringt eine gar nicht so kurze Zeit am Tisch, sitzt eng und ziemlich unbeweglich zusammen, die Gesichter einander zugewandt, in der Erwartung, sich über die Sensationen des Tages auszutauschen oder über Gefühle – was im disziplinorientierten 19. Jahrhundert noch völlig undenkbar war und auch heute nicht immer gelingt. Es ist wirklich schwierig für Paare und Familien, miteinander zu reden. Aber das ist ganz normal. Die Familienmitglieder werden immer autonomer. Sie verlangen nach mehr Selbstverwirklichung. Also müssen sie mit dem Bestehenden Kompromisse schließen.

Das macht das gemeinsame Essen zu einem Risiko?

Nähe und Intimität können Konflikte anstoßen. Umgekehrt bleibt, wenn nur über das Wetter gesprochen wird, der Anspruch auf Nähe unerfüllt. Unterschiedliche Tischmanieren provozieren. Es können schon Tassen fliegen. Aber ohne gemeinsames Essen gäbe es die Familie nicht. Übrigens handelt meine gerade abgeschlossene Studie auch hin und wieder vom Esstisch. Ärgernisse und Nervereien in Partnerschaften waren ihr Gegenstand. Da ist zum Beispiel jene Frau, die nach Jahren gemeinsamer Mahlzeiten feststellt, dass der Partner beim Essen ein komisches Geräusch macht. Das Geräusch beginnt zu nerven. Irgendwann wird es unerträglich…

Apropos Partnerschaft: Sie beschreiben in Ihrem Buch drei Männertypen. Den Pascha, der sich das Essen auf den Sitz bringen lässt. Den Handlanger, der die undankbare Aufgabe übernimmt, Karotten zu schrappen. Und den Star der Szene: Er brät gewaltige Tiere und heimst für sein Festmenü alles Lob ein. Die Alltagsküche allerdings ist ihm zu profan. Wie halten Sie selbst es mit dem Kochen?

Anders als die meisten Männer koche ich jeden Tag, kenne also die unangenehme Frage danach, was am nächsten Tag auf den Tisch kommen soll – und die wenig richtungsweisende Antwort der Familienmitglieder: „Was du willst.“ Ich koche aber auch bei Festen, denn ich liebe die große, leidenschaftliche Küche,…

die den Koch, wie Sie es beschreiben, so sehr fordert, dass er während des Festessens selbst meist keinen Hunger hat, erschöpft ist, abwesend wirkt.

Stimmt. Trotzdem tische ich gern groß auf. Wenn ich nur mehr Zeit hätte. Aber ich muss arbeiten, Bücher schreiben…

Also geht es Ihnen wie den meisten Ihrer Interviewpartner: Sie haben unterschiedliche hohe und niedrige Tische, kochen und essen mal aufwändig, mal schnell, mal in Familie, mal für sich allein nach eigenem Rhythmus…

Und dazu steht für mich etwas Neues an. Die Kinder sind gerade drauf und dran, das Haus zu verlassen. Ich werde nicht mehr jeden Tag kochen müssen. Das ist eine enorme Befreiung für den Küchenchef. Sonst musste ich tagtäglich darüber nachdenken, was es zu essen geben könnte. Jetzt rufen sie mich an und sagen, wann sie zum Essen kommen, was sie am liebsten essen wollen, und ich plane, kaufe ein, schnipple, stelle mich an den Herd und bereite mit aller Hingabe eine große Familienmahlzeit zu. Das ist die reine Freude.