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Archiv-Artikel

Nur ein Hauch von Ruhe

Während im Südlibanon israelische Bomben fallen, kehren die Menschen in Beirut auf die Hafenpromenade zurück und rauchen Wasserpfeifen. Vor ihren Augen brummt die Kriegsmaschinerie

Der Bruder des Vize-Hisbollah-Chefs Naim Qassem hat einen anderen Weg als sein prominenter Bruder eingeschlagen. Er ist DJ

aus BEIRUT KARIM El-Gawhary

Beirut ist die Stadt der heißen und kalten Duschen. Mal hoffen die Menschen auf politische Initiativen, Rom, Condolezza-Rice-Besuche, den UN-Sicherheitsrat. Dann kommt wieder die Angst. „Werden die Israelis jetzt wieder Beirut bombardieren?“, lautet die Frage, nachdem eine Hisbollah-Rakete südlich von Haifa eingeschlagen ist.

Von meinem Hotelfenster aus sehe ich die Beiruter Hafeneinfahrt. Vor kurzem lief ein erstes US-Kriegsschiff mit Hilfslieferungen ein: amerikanische Carepakete für den Libanon und US-Hightech-Präzisionsraketen für Israel. Im Hafen ist es inzwischen viel ruhiger geworden. Die Libanesen, die das Glück hatten, einen ausländischen Pass zu besitzen, sind bereits mithilfe ihrer Botschaften außer Landes gebracht worden. Wenigstens dieses mulmige Gefühl für die verbliebenen Beiruter ist vorbei, mit jedem auslaufenden Schiff zu denken, dass das Land jetzt sich selbst überlassen wird. Auch die regelmäßigen Bombardierungen der südlichen Vorstadt haben in den letzten Tagen ein wenig nachgelassen. Architektonisch würde es auch keinen Unterschied mehr machen. Aus einem Wohngebiet haben die israelischen Bomben inzwischen eine verkraterte Mondlandschaft gemacht. Sogar die Hisbollah-Kämpfer, die an allen Zufahrtstraßen wachen, sind etwas relaxter geworden, zumindest gegenüber arabisch sprechenden Journalisten. Na ja,wenn es denn sein müsse, sagen sie, könne das Kamerateam auch ohne telefonische Genehmigung der Hisbollah-Pressestelle hier filmen, wenn es nur schnell gehe. Allzu lange will man sich zwischen den Trümmerhaufen und dem verbrannten Geruch aber ohnehin nicht aufhalten, wer weiß, ob die israelischen Kampfjets nicht doch gerade wieder in dieser Minute zurückkehren.

Überhaupt ist es ausgesprochen schwierig, die richtige Entscheidung zu treffen, wie die journalistische Neugierde ohne allzu großes Risiko befriedigt werden kann. Die Fahrt in den Südlibanon in der vergangenen Woche steckt mir immer noch in den Knochen. Bis zur Kleinstadt Nabatija war alles relativ ruhig verlaufen. Aber dann kam der Lärm der Explosionen doch wieder näher. Eine Straße, die wir passieren wollten, war gerade einmal ein, zwei Stunden zuvor bombardiert worden. Über uns war das Röhren der Kampfjets in großer Höhe zu hören. Keiner unten am Boden wusste, unter welchen Gesichtspunkten die Piloten ihr nächstes Ziel aussuchen würden. Ein Gefühl, vollkommen ausgeliefert zu sein, machte sich schnell breit.

Auf dem zerstörten Markt in der Innenstadt Nabatiyas wird deutlich, welchen Schaden die israelischen Flieger anrichten können, wenn sie ihre Ladungen abwerfen. Ein ganzer Häuserblock ist vollkommen zerstört. Wir brechen die Fahrt, die eigentlich in der südlibanesische Hafenstadt Tyros enden sollte, ab und kehren über viele Umwege wieder ins vergleichsweise sichere Beirut zurück. Eine gute Entscheidung, wie sich später herausstellen soll. Nur eine halbe Autostunde von Nabatija entfernt, auf dem Weg nach Tyros, starb am selben Tag eine libanesische Journalistin. Eine Rakete war neben ihrem Fahrzeug eingeschlagen. Wären wir weitergefahren, hätten wir etwa zeitgleich mit der libanesischen Kollegin die Stelle passiert.

Auch die deprimierenden Besuche in den Krankenhäusern zeigen immer wieder, dass die Gefahr nicht nur theoretischer Natur ist. Gleich drei Zimmer belegt die Familie Scheito im Hariri-Krankenhaus in Beirut. Die 18-köpfige Familie wollte letzte Woche gemeinsam aus ihrem umkämpften Dorf Bint Dschbeil fliehen, als ihr Kleinbus von einer israelischen Rakete beschossen wurde. 14 Familienmitglieder sind jetzt im Krankenhaus, die meisten mit Verbrennungen. Drei liegen noch tot auf der Strecke, da es noch keiner gewagt hat, die Leichen zu bergen. Das Krankenhaus ist voll mit derartigen Geschichten. Ein Ort, an dem die anonyme Statistik der Kollateralschäden dieses Krieges plötzlich ein reales, verbranntes Kindergesicht bekommt. In der Nacht träume ich: eine Mischung aus Szenen mit meinen eigenen drei Kindern und denen aus dem Krankenhaus.

In Beirut selbst begann am Donnerstag wieder eine Art Normalität. Endlich wieder die ersten Autostaus zur Mittagszeit. Endlich wieder Leute auf den Straßen. Endlich wieder offene Läden, wenn auch noch nicht alle. Vielen fehlt es noch an Personal, das im Süden hängengeblieben ist. Abends bevölkern die Menschen wieder die Corniche, die Uferpromenade am Mittelmeer, und genießen die kühlende Abendbrise. Die Kinder kurven mit ihren Fahrrädern herum, die Alten haben Plastikstühle mitgebracht und schmauchen in Ruhe an ihrer Wasserpfeife. Ab und zu blicken sie prüfend zum Meer, ganz so, als wollten sie kontrollieren, ob nicht doch ein israelisches Kriegsschiff auftaucht und wie in den ersten Tagen des Krieges Raketensalven in die Stadt feuert. In dem Getümmel kann man den Lärm der hoch fliegenden israelischen Flugzeuge nicht mehr hören. Im ganzen Libanon gibt es, anders als in Nordisrael, keinen Luftalarm oder irgendwelche Vorwarnungen – nur eine gehörige Portion Fatalismus. Es stehe eben schon geschrieben, wo und wann man sterben wird, beruhigen sich viele.

In dem einzigen Café am Meer, das inzwischen wieder geöffnet hat, direkt neben Manara, dem Leuchtturm am westlichsten Zipfel der Stadt, treffe ich den jungen Iraker Ali. Er bereitet in dem Café die Wasserpfeifen vor. „Vor zwei Jahren bin ich aus Bagdad ins ruhigere Beirut geflohen, und jetzt das.“ Sein Lachen über diesen Zustand ist eine Mischung aus Komik und Tragik, Kriegstragikomik. Ansonsten gibt sich Ali gelassen. Er ist ein echter Kriegsfachmann. Zu Beginn des Krieges hatten die Israelis den benachbarten Leuchtturm mit Raketen beschossen. Da kam plötzlich der Apache-Kampfhubschrauber übers Meer geflogen. „Ich habe den Leuten gesagt, der feuert jetzt, aber sie haben mir nicht geglaubt. Ich kenne das von den US-Apaches im Irak. Kurz bevor sie feuern, müssen sie zielen und bleiben kurz in der Luft stehen.“ Kurz darauf schlugen zwei Raketen in den Leuchtturm ein, „aber nur zwei kleine“, meint der unfreiwillig Kriegserprobte und zeigt auf die Spanne zwischen seinem Daumen und Zeigefinger.

Auch die Barometer Bar unweit der berühmten Hamra-Flaniermeile im Westen Beiruts hat wieder aufgemacht. Gegen Mitternacht ist sie proppenvoll. Die jungen Libanesen, die tagsüber ehrenamtlich helfen, die Flüchtlingsfamilien aus dem Süden zu versorgen, kommen auf einen Drink hier vorbei. Der Fernseher läuft neben der Theke, in Schwarzweiß und ohne Ton. Keiner sieht hin. Die Besucher der Bar wollen wenigstens für ein paar Stunden die Nachrichten vergessen. Der Bruder des Vize-Hisbollah-Chefs Naim Qassem sitzt mit seinen Freunden am Nachbartisch. Er hat einen anderen Weg als sein prominenter Bruder eingeschlagen und ist ein stadtbekannter DJ geworden. Hisbollah-Vizechef und linker DJ in einer Familie. Ich frage mich, warum und wie Israel eine Organisation zerstören will, die so mit der libanesischen Gesellschaft verwoben ist. Die Unterstützung für Hisbollah geht durch alle Religionsgruppen. Mehr als 70 Prozent der Libanesen befürworten die Entführung der israelischen Soldaten für einen Gefangenenaustausch. Also jene Aktion, die die Krise ausgelöst hat. Fast 87 Prozent unterstützen die Konfrontation der Hisbollah mit Israel, also auch den Beschuss Nordisraels mit Katjuscha-Raketen. Darunter auch 80 Prozent der Christen des Landes.

Ein paar Ecken weiter beim Armenier-Restaurant in der Hamra treffe ich Timur Göksel. Ich kenne den Unifil-Offizier a. D. schon aus der Zeit, als die israelische Armee noch den Südlibanon besetzt hielt. Vor drei Jahren schied er dann nach 24 Jahren aus dem aktiven Dienst aus. Kaum ein anderer UN-Blauhelmsoldat kennt den Südlibanon und das Katz-und-Maus-Spiel der Hisbollah und Israels besser als er. Auf die Frage, was er von internationalen Truppen im Südlibanon hält, lacht er laut auf. „Das ist die dümmste Idee, von der ich in meinem ganzen Leben gehört habe“, sagt er und winkt ab. „Welches Land ist so blöd, Truppen zu schicken, um möglicherweise gegen die Hisbollah kämpfen zu müssen?“ Ohne die Zustimmung der Hisbollah ist eine UN-Truppe im Südlibanon in der Tat schwer vorstellbar. Also frage ich nach, bei der Hisbollah. Zahlreiche Telefonate später endlich eine Antwort. Ein Mann sagt mir, ich solle mich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhalten, dann werde er sagen, wo genau ich ihn treffen könne. Schließlich steht er vor mir: Hisbollah-Politbüro-Mitglied Ghalib Abu Zeinab. „Der Grundstein für alles ist eine Waffenruhe“, insistiert er. Über eine internationale Schutztruppe will er noch nichts sagen, solange deren Mandat nicht klar ist. Aber eines ist für ihn sicher: „Wir werden nicht zustimmen, während wir gleichzeitig militärisch angegriffen werden“, sagt er.

Drei Tage später liegt das südlibanesische Dorf Kana in Schutt und Asche. 56 Zivilisten sind tot, die Welt ist schockiert. Und Israel? Lehnt eine Feuerpause ab. Nur um dann, wenige Stunden später, zu verkünden, dass man jetzt 48 Stunden lang die Waffen ruhen lassen werde, um den brutalen Angriff auf das Dorf zu untersuchen.