: „Ich wünsch’ mir einen Pass“
Dajana Vasić ist vor einer Woche 16 Jahre alt geworden. Richtig freuen kann sich der Teenager darüber nicht. Ihr und den drei jüngeren Geschwistern, die unter der Obhut des Großvaters in Berlin leben, droht die Abschiebung nach Bosnien. Und mit 16 kann Dajana auch alleine abgeschoben werden
von Alke Wierth
Eine superschicke silberne Kette hat Dajana geschenkt bekommen. Und ihr Opa hat das goldene Medaillon, das er zu ihrer Geburt hatte anfertigen lassen, aus dem Pfandhaus geholt. Sogar ein Magier tritt bei der Feier auf, die ihr der Wirt einer kleinen Gaststätte am Anhalter Bahnhof spendiert hat. Er verzaubert die Gäste mit brennenden Brieftaschen und Bällen, die sich in Kinderhänden wundersam vermehren. Ein Tag voller Freude, und doch ist ihr 16. Geburtstag kein Freudentag für Dajana.
Das stille Mädchen mit dem dunklen Pagenkopf soll wie seine drei jüngeren Geschwister abgeschoben werden – nach Bosnien, in ein Kinderheim. Denn der Vater hat sich seit der Scheidung der Eltern nicht mehr um die Kinder gekümmert, sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Auch die Mutter ist seit ihrer Abschiebung im vergangenen Jahr verschwunden. In Berlin hatte man ihr zuvor eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert.
Die Kinder leben seither bei ihrem Großvater, der auch der Vormund seiner vier Enkel ist. Auch die Großmutter, eine Tante und ein Onkel der Kinder leben in Berlin. Der Onkel besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, Tante und Opa haben eine Niederlassungserlaubnis. Dabei, ein Aufenthaltsrecht für Dajana und ihre Geschwister zu bekommen, hilft das nicht.
Dajana, Milan (14), Angelina (12) und Duško (9) sind Flüchtlingskinder. Mit ihren Eltern, Roma aus Bosnien, kamen sie 1992 nach Deutschland – jedenfalls die beiden Älteren, die damals Babys waren. Angelina und Duško sind in Berlin geboren. Seither leben sie hier mit dem unsicheren Status geduldeter Flüchtlinge – und da ihren Eltern kein sicherer Aufenthalt gewährt wurde, sollen auch die Kinder nun nach Bosnien zurück.
Deshalb steht Dajanas Opa, während sie in der gemütlichen Stadtklause ihren Geburtstag feiert, draußen vor der Tür und gibt Fernsehinterviews. Und deshalb redet der kleine drahtige Mann mit den tätowierten Armen sich immer wieder in Rage, auch wenn sein jüngster Sohn Josip ihm beruhigend auf den Rücken klopft. Miloš Sitz kämpft für seine Enkel. Dass die vier Kinder in ein Heim sollen, in ein Land, das sie nicht kennen, obwohl er doch da ist und alles für sie tut – das will ihm nicht in den Kopf. Selbst der Sachbearbeiter der Ausländerbehörde hat ihm bestätigt, was für ein toller Großvater er ist. Auf den ist Miloš Sitz sonst nicht gut zu sprechen. Schließlich kam die Ankündigung der Abschiebung von ihm – „kindgerecht“ werde die sein, hieß es in dem Schreiben. Opa Sitz kann darüber nur den Kopf schütteln. Nächtelang hat er Wache gehalten vor der Tür der Kinder, bis die akute Abschiebegefahr zunächst vorbei war. Da die Härtefallkommission des Landes und der Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses sich des Falles annehmen, ist die Abschiebung erst einmal wieder ausgesetzt.
„Wenn ich weiß, dass meine Enkel in Sicherheit sind, kann ich sterben“, sagt der 59-Jährige, der viel zu fit und agil ist für solch einen Satz. Dass er die Ankündigung wahr macht, ist wohl auch nicht zu befürchten. Denn Miloš Sitz hat noch eine Menge Pläne, einen Traum, den er sich erfüllen will. Er will seine Familie beisammen haben, ihr ein sicheres, ruhiges, ein bürgerliches Leben ermöglichen. Fünf Kinder hat er selbst und noch weitere Enkel, im Moment sind sie über die halbe Welt verstreut. Dass das so ist, liegt am Krieg in Jugoslawien, aber auch ein bisschen an Opa Sitz selbst.
Als junger Mann ist Sitz viel unterwegs gewesen, als Lastwagenfahrer durch halb Europa gereist. Später war er Gastarbeiter in Deutschland, verliebte sich hier und ließ sich von seiner bosnischen Ehefrau scheiden. Die fünf gemeinsamen Kinder blieben bei ihr. Miloš Sitz heiratete die Deutsche, er ist Witwer, seit sie vor einigen Jahren starb.
Als der Krieg nach Bosnien kam, wollte Miloš seine Kinder und seine Ex-Frau in Sicherheit bringen. Bei den zwei jüngsten gelang das, Josip und Diana waren damals 10 und 15 Jahre alt, per Familiennachzug konnte Miloš Sitz sie nach Deutschland holen. Josip Vasić, heute 26, ist mittlerweile Deutscher und macht eine Ausbildung als Kaufmann. Die quirlige Diana, 32, gelernte Raumausstatterin, ist arbeitslos. Doch auch ihr Aufenthaltsrecht ist gesichert.
Die drei älteren Kinder von Miloš Sitz hatten damals bereits selber Familien und Kinder. Sie konnten deshalb nicht über Nachzugsregelungen nach Deutschland kommen. Sie kamen als Flüchtlinge, auch Tomislav, Miloš’ ältester Sohn und Vater von Dajana und ihren Geschwistern.
Für sie begann die übliche grausige Geschichte geduldeter Kriegsflüchtlinge – Sicherheit auf Abruf. Um dem zu entgehen, entschlossen sich die drei älteren Kinder von Miloš Sitz, zwei Söhne und eine Tochter, ein amerikanisches Angebot anzunehmen. Sie flüchteten im Jahr 2000 noch einmal: vor dem unsicheren Leben in der Bundesrepublik in die USA. Die nahmen damals gerne bosnische Flüchtlinge aus Europa auf.
Immer noch leben ein Sohn und eine Tochter von Milos Sitz in den Vereinigten Staaten. Tomislav, der älteste, kehrte 2002 zurück: Seine Ehe war zerbrochen, er wollte die Kinder zu seinem Vater und der Oma bringen, die mittlerweile ebenfalls vor dem Krieg nach Berlin geflüchtet war. Die Mutter der vier Geschwister war bereits erkrankt, sie schaffte es nicht mehr, sich allein um die Kinder zu kümmern. Tomislav verschwand nach der Rückkehr nach Deutschland. Er könnte in Serbien sein, vermutet Miloš Sitz.
Er ist sauer auf seinen Ältesten, der seine vier Kinder im Stich ließ. Doch auch er selbst habe in seinem Leben einige Fehler begangen, meint Opa Sitz. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er nun seine Familie wieder um sich haben will, am liebsten komplett. Seine Kinder und Enkel würden aus den USA zurückkehren, sobald sie genug Geld gespart hätten, sagt der Rentner. Dann will er gemeinsam mit ihnen ein Restaurant eröffnen, Roma-Küche soll es geben, am liebsten direkt am Ku’damm: „Und alle von uns werden da Arbeit haben!“ Das ist sein Traum.
In der kleinen Erdgeschosswohnung im Neuköllner Norden, in der Opa Sitz mit seinen vier Enkeln lebt, steht ein kleines Klavier für diesen Traum vom bürgerlichen Leben. Wenn er dazu Ruhe genug hat, übt Miloš Sitz mit den Kindern darauf. Es ist in dieser Gegend gar nicht so einfach, vier Kinder wohl behütet zu erziehen. Die Straßen und Hausflure sind heruntergekommen, die Fassaden noch schwarz von Kohleöfen, die es längst nicht mehr gibt. Opa Sitz erzieht seine Enkel mit Strenge – er ist der Boss. Ein Diktator ist er nicht. Mit dem vierzehnjährigen Milan diskutiert er ruhig, ob auch für die Ferien eine Monatsfahrkarte gekauft werden muss.
720 Euro zahlt das Sozialamt monatlich für die Kinder. Das ist nicht viel für Essen, Kleidung, Schulsachen und alles andere. Deshalb musste auch das goldene Medaillon ins Pfandhaus.
Milan, dünn und lang wie viele Jungen seines Alters, ist das Stillste der vier Enkelkinder von Miloš Sitz. Er geht zur Hauptschule. Sein Zeugnis war gut wie die seiner zwei Schwestern – nur Duško, der Jüngste, kommt beim Lesenlernen nicht mit. Sie hätte gerne mehr Schüler von seiner Sorte, hat Milans Lehrerin über ihn gesagt. Auch die Lehrer der anderen Kinder setzen sich gegen deren drohende Abschiebung ein.
Noch drei Tage gelten die derzeitigen Duldungen der Kinder – bis zum 1. August. Abgeschoben werden sie dann noch nicht, denn einen Tag später steht ein Termin vor dem Verwaltungsgericht an. Die Härtefallkommission und der Petitionsausschuss werden sich nicht vor Ende August mit dem Fall der vier Geschwister beschäftigen. Dass eine Abschiebung vorher nicht stattfinden kann, stand auch bei Opa Sitz’ letztem Besuch bei der Ausländerbehörde schon fest. Warum die Duldungen seiner vier Enkel dennoch nur um knapp vier Wochen verlängert wurden, bleibt das Geheimnis der zuständigen Mitarbeiter.
Von dem Abschiebestopp, den Innensenator Körting kürzlich verhängt hat, weil er mit dem Beschluss einer „Altfallregelung“ für langjährig geduldete Flüchtlinge auf der nächsten Innenministerkonferenz im Herbst rechnet, werden die vier möglicherweise nicht profitieren können. Denn durch den Aufenthalt der Kinder in Amerika, von dem die Familie erst 2002 zurückkehrte, könnte ihnen die Anerkennung als „Altfälle“ verweigert werden.
Die Gefahr einer Abschiebung ist derzeit für Dajana, das Geburtstagskind, am größten – Grund dafür ist ihr Geburtstag. Mit 16 gilt sie der Ausländerbehörde als erwachsen. Sie wird sich deshalb zukünftig selbst um die Verlängerung ihrer Duldung kümmern müssen und könnte außerdem auch alleine nach Bosnien abgeschoben werden – „kindgerecht“ müsste es dabei nicht mehr zugehen.
Die pummelige Dajana mit dem lieben Gesicht wird ganz starr vor Angst, wenn sie daran denkt. Ohne ihre Familie sein – das kennt sie gar nicht, und vorstellen will sie es sich erst recht nicht. Auch wenn sie sich über das Fest und die Geschenke zu ihrem Geburtstag sehr gefreut hat: Ihr größter Wunsch, sagt sie, sei ein deutscher Pass.