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Archiv-Artikel

1997, 2006 … Na wartet!

Unterfinanziert sind die Unis seit 1977. Zwei Studierende müssen sich seither einen Studienplatz teilen. Aber alle Proteste sind nur ein Vorgeplänkel für 2012. Dann nämlich wollen 2,5 Millionen junge Leute studieren

Manchmal fragt man sich, womit die zwei Millionen StudentInnen überhaupt provoziert werden könnten

AUS KÖLN CHRISTIAN FÜLLER

Herr Professor gab sich ganz unschuldig. „Ich kann niemandem zumuten, seine ganze Studienplanung über den Haufen zu werfen, nur weil es nicht genug Studienplätze gibt“, rechtfertigte Wolfgang Schneider sein Verhalten. Der Pädagogikprofessor der Universität Köln tat jüngst etwas, was die lokale Presse nicht witzig fand. Professor vergibt Seminarscheine ohne Leistung, erregte sich der Stadtanzeiger über die Scheine für lau.

Das ist knapp zwei Monate her. Professor Schneider ist alles andere als ein fauler Prof. Aber weil sich für sein Seminar in Erziehungswissenschaften 450 Studierende auf 120 Plätze bewarben, zog er kurzerhand die Notbremse. Er veröffentlichte auf seiner Homepage eine Gebrauchsanweisung gegen Studienverhältnisse Marke Sardinenbüchse, die sich in etwa so las: 1. Beschweren Sie sich beim Dekanat. 2. Lassen Sie die Studierenden mit höheren Semesterzahlen vor. 3. Holen Sie sich die Teilnahmebescheinigung für das Seminar bei mir ab – ohne den Kurs zu besuchen.

Hört sich an wie eine Anleitung zum Studium sorglos. In Wahrheit war es der Auftakt zu einer neuen Protestkampagne, die gerade von den Universitäten ausgeht. Die Protestler geben sich progressiv – sie mobilisieren gegen die Verletzung des Rechts auf Bildung.

Das ist ein bisschen dick aufgetragen. Sitzen die Insassen des Luxusliners der deutschen Bildungsflotte doch auf dem universitären Sonnendeck – während unten im Maschinenraum Hauptschule knapp 20 Prozent eines Jahrgangs ohne Aussicht auf höhere Bildung vor sich hinbrüten. Diese Risikoschüler waren den Studis noch keine Demo wert. Dennoch stimmt es – die Studienbedingungen, gegen die Professor Schneider und die Studis aufbegehren, sind weder ein Zuckerschlecken noch ein Einzelfall. Und jetzt sollen sie für den Platz im Hörsaal obendrein bezahlen. Wogegen muss der Protest sich wenden? Gegen solche Studienbedingungen? Oder gegen die Verschärfung derselben durch Studiengebühren? Hat er eine Perspektive?

Miserabel sind die Studienbedingungen im Grunde seit 1977. Die Bildungsexpansion unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen!“ verdreifachte die Zahl der Studienberechtigten auf rund 30 Prozent. Als die Studierenden dann tatsächlich an die Hochschulen drängten, sprengten sie die ganze Veranstaltung – zunächst unabsichtlich. Sie nahmen ihr Recht auf höhere Bildung wahr. Die erschrockenen Kultusminister fassten nicht in die Kasse, sondern den so genannten Öffnungsbeschluss. Sie kamen zu einer sehr eigentümlichen Tür-auf-Entscheidung und öffneten die Unis nur für zusätzliche Studierende – nicht aber für mehr Dozenten, Professoren oder Lektoren. Sie wollten den zeitweisen Studentenberg, wie es damals hieß, untertunneln.

Das ist die Lebenslüge der Universität. Seit den 80er-Jahren hat sich allein die Ausstattung der medizinischen Fachbereiche ein wenig verbessert. Der Rest der Uni ist und bleibt Mängelverwaltung, Schadensbegrenzung. Den akademischen Unterricht von Studierenden durch Professoren, die gleichzeitig in der Forschung neue Erkenntnisse produzieren, gibt es zwar noch – aber unter erbarmungswürdigen Zahlenverhältnissen. Humboldt ist auch als universitäre Idee tot.

„Na gut, dass die Uni nicht immer so viel Spaß macht wie in der Einführungswoche, ist klar“, dachte sich Thomas Siebert. „Aber muss es denn so beschissen sein?“ Das war im November 1997 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Menschentrauben bildeten sich vor den Hörsälen und Seminarräumen. Mülleimer wurden zu Lostrommeln umfunktioniert. Aus 300 Namenszetteln wurden dann 40 oder 50 als Eintrittskarte ins Seminar gezogen. Manche Professoren weigerten sich, ihr Seminar abzuhalten. Um Platz zu gewinnen, versuchte man hie und da, die Erstsemestler vor die Tür zu setzen.

An der Uni Gießen allerdings ging die Rechnung damals nicht mehr auf. Statt der erwarteten 60 wollten 600 junge Leute einen Kurs in Erziehungswissenschaften belegen. „Man fragte mich, ob ich nicht zugehört hätte“, erinnert sich die Studentin Antje Steinbrenner, „und ich entgegnete meiner Seminarleiterin, dass ich mich weigere, diesen Raum zu verlassen. „Dann müssen sie mich schon raustragen.“

Der akademische Ungehorsam wandelte sich in den Aufsehen erregendsten Studentenprotest seit 1968 – und zugleich den erfolglosesten. Binnen kurzer Zeit waren Hochschulen in ganz Deutschland davon erfasst. 140.000 Studierende gingen allein am 4. Dezember 1997 auf die Straßen. Insgesamt waren es über wenige Wochen rund eine Million Studierende – mehr als die 68er je auf die Beine gebracht hatten.

Der Megaaufstand war freilich gar keiner. Es war ein „Lucky Streik“, ein leichtes, fast unbeschwertes Rumoren der Studenten. Sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) lobte die Streikenden. „Das sind ganz normale junge Leute, die zügig studieren wollen“, sagte Kohl im Bundestag. Das Lob des Dicken war wohl temperiert Richtung 1968 gemünzt. Im Unterschied zur 68er-Bewegung, sagte Kohl, wollten die 97er nicht den „Staat umstürzen“ und die „Verfassung ändern“.

Es waren enttäuschte Bürgerkinder, die da demonstrierten. Sie waren an die Uni gekommen, jenes Bildungsversprechen einzulösen, das ihnen der Staat gibt. Und dann das. „Studierende wollen studieren, aber die Universität kann diesem Wunsch nicht mehr nachkommen“, beschreibt der Universitätsassistent Georg Brandt die Situation. „Für mich war klar, dass die Hochschullehre vor unseren Augen zusammenbrach.“ Alle Sympathie aus dem Bundeskabinett konnte das nicht verhindern. Die schwarz-gelbe Regierung traf sich noch in den Streiktagen, um einen Aufschlag des Bildungsetats zu beraten. Und beschloss, 20 Millionen Euro Bücherzuschuss für 1,8 Millionen Studierende zu spendieren – pro Studierendem 10 Euro mehr Lesestoff.

Was sich damals zutrug, war das alte, immergleiche Pingpong in der Bildungspolitik. Bund und Länder werfen sich gegenseitig vor, der jeweils andere gebe nicht genug Geld. Und auch das Ergebnis ist immer das gleiche. Am Ende kann sich, weil kein Bürger und kein Student durchblickt, der Staat mit symbolischen Etaterhöhungen aus der Affäre ziehen. Besonders drastisch schlägt sich das im Hochschulsystem nieder, wo inzwischen eine Unterfinanzierung von 4 bis 10 Milliarden Euro gibt.

Auch der für deutsche Verhältnisse gigantische Lucky Streik hat daran nichts ändern können. Ja, er wurde sogar zu einer großen Niederlage. Die Wucht der studentischen Aktionen brach schnell weg. Als sich die Aktivisten an einem Sonntag im Januar in ihrem bundesweiten Forum „freier zusammenschluss der studierendenschaften“ nicht über ihre Forderungen einigen konnten, waren die Studierenden politisch tot. Genau jene Presse, die sie vorher für ihre kreativen Protest so gelobt hatte, zeigte ihnen nun die kalte Schulter.

Es war so etwas wie eine finale Niederlage der Studenten. Heute kann es einen solchen Protest praktisch nicht mehr geben. Nicht mal das Revolutions-Viagra Studiengebühren wirkt noch. Das Verfassungsgericht hat den Weg für die Länder frei gemacht, Studiengebühren zu erheben. Fast alle Bundesländer, von den wenigen SPD-regierten abgesehen, führen die Universitätsmaut ein. Das ist zwar eine grandiose Frechheit, denn die Studierenden sollen nun die Finanzlöcher stopfen, die der Staat gerissen hat. Grund genug aufzustehen. Nur kam kein studentischer Protest, den es in den letzten Jahren und Wochen gab, an den von 1997 heran.

Aber wurden nicht zwei Großreformen eingeleitet, die das Übel des deutschen Hochschulsystems an der Wurzel angehen? Immerhin findet unter dem Stichwort Bologna-Beschluss die größte denkbare Studienreform statt. Gestufte Studiengänge sollen das Studium erstmals in genießbare Häppchen portionieren. Zusätzlich unternimmt die Bundesrepublik etwas gegen die chronische Unterfinanzierung – über sechs Jahre hinweg werden über das Elitehochschulprogramm 1,9 Milliarden Euro zusätzlich ins System gepumpt.

„Dass die Uni nicht immer so viel Spaß macht wie in der Einführungswoche, ist klar, aber muss es denn so beschissen sein?“

Beachtliche Reformen – zu denen die Studierenden leider keine definierbare Haltung entwickelt haben. Der Bachelor könnte echte Vorteile für die Studierenden bringen. Aber bislang sind alle Verheißungen ausgeblieben – außer- wie innerhalb der Hochschulen. Die internationale Vergleichbarkeit des Studiums gibt es bislang nur auf dem Papier. Den Bachelor als identifizierbaren Ausweis einer Berufsqualifikation kennt die Wirtschaft nicht. Und auch im Studium ist die Entschlackung der Studieninhalte ausgeblieben, die ja nötig ist, wenn das Studium nicht nur auf drei Jahre zusammengepresst werden soll. Das sind alles kleine Skandale, die sehr auf Kosten der Studierenden gehen. Aber energische Beteiligung oder Forderung nach Korrektur – Fehlanzeige. Manchmal fragt man sich, womit die zwei Millionen StudentInnen überhaupt provoziert werden könnten.

Mit den neuen Elitemilliarden jedenfalls gelang das nicht. Die Elitekohle wird Studienbedingungen nur für einen sehr kleinen, eben elitären Teil der Studis verbessern. Ein beträchtliche Summe der Milliardenspritze geht in die so genannte strukturierte Doktorandenausbildung, das sind Graduate Schools. Das Gros der Studierenden wird lange vorher mit einem Bachelor in der Tasche vor die Uni-Türe gesetzt.

Die Studierenden bleiben in ihren Forderungen seltsam unklar. Niemand weiß, wofür ihre große Zahl wirklich steht. Aktionen wie jetzt in Frankfurt oder auch in Nordrhein-Westfalen sind auf ihre Weise elitär – und harmlos. Als das Rektorat der Uni Köln jüngst geräumt wurde, es war Sonntagnacht, ließ sich eine Hundertschaft (!) Studierender von der Straßenbahn davonkutschieren. Die Handvoll (!) begleitende Polizei erschrak kurz, als ein Aktivist durchs Megafon plötzlich zum schellen Verlassen der Tram aufrief. Die Aufregung war umsonst, die Parole lautete: „Alle raus beim nächsten Halt – Bier holen.“

Nein, was jetzt geschieht, ist nur ein Vorgeplänkel, ein Warming-up für Jüngere, die jetzt üben, was sie in fünf, sechs Jahren anwenden werden. Die Studierendenzahlen zeigen nämlich unaufhörlich nach oben. Bereits heute zählt die Republik über zwei Millionen Studierende. Bis zum Jahr 2012 werden über 2,5 Millionen junge Leute ihr Glück an den Hochschulen suchen. So sagen es die Prognosen voraus.

Ihre schiere Zahl wird das marode System gewaltig unter Druck setzen. Man muss sich vorstellen: 1997 brachte schon ein Zwischenhoch von rund 1,8 Millionen das System an den Rand des Zusammenbruchs. Bereist damals teilten sich de facto zwei Studierende einen Studienplatz.

Daran hat sich nichts geändert. Kein Wissenschaftsministern ist bereit, richtig viel Geld in die Hand zu nehmen. Es ist immer noch die Mangellogik des vermaledeiten Öffnungsbeschlusses, der Ende der 70er-Jahre getroffen wurde, unter der das Hochschulwesen heute leidet. Er wird das Jahr 2012 nicht überleben.